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Leo Trotzki Ergebnisse und Perspektiven

Samstag 7. März 2009

1. Die Besonderheiten der historischen Entwicklung

Vergleichen wir die gesellschaftliche Entwicklung Rußlands mit der Entwicklung der europäischen Staaten – indem wir deren gemeinsame Züge zusammenfassen und die Unterschiede zwischen ihrer Geschichte und der Geschichte Rußlands herausstellen – so können wir sagen, daß das wesentliche Merkmal der russischen Gesellschaftsentwicklung ihre relative Primitivität und Langsamkeit ist.

Wir wollen hier nicht die natürlichen Ursachen dieser Primitivität behandeln, aber das Faktum selbst halten wir für unbezweifelbar: die russische Gesellschaft entstand auf einer einfacheren und ärmeren ökonomischen Grundlage.

Der Marxismus lehrt, daß dem sozial-historischen Prozeß die Entwicklung der Produktivkräfte zugrunde liegt. Die Bildung ökonomischer Zünfte, Klassen und Stände ist nur dann möglich, wenn diese Entwicklung einen bestimmten Stand erreicht hat. Für die Differenzierung in Stände und Klassen, die von der Entwicklung der Arbeitsteilung und der Herausbildung spezialisierter gesellschaftlicher Funktionen bestimmt wird, ist es notwendig, daß der Teil der Bevölkerung, der unmittelbar in der materiellen Produktion beschäftigt ist, über den eigenen Verbrauch hinaus ein Mehrprodukt, einen Überschuß produziert: nur durch die entfremdete Aneignung dieses Überschusses können nichtproduktive Klassen entstehen und sich strukturieren. Sodann ist die Arbeitsteilung innerhalb der produktiven Klassen selbst nur bei einem bestimmten Entwicklungsstand der Landwirtschaft denkbar, durch den die Versorgung der nicht-bäuerlichen Bevölkerung mit Agrarprodukten gewährleistet werden kann. Diese grundlegenden Voraussetzungen der sozialen Entwicklung sind bereits von Adam Smith genau formuliert worden.

Daraus folgt – obgleich die Nowgoroder Periode unserer Geschichte mit dem Beginn des europäischen Mittelalters zusammenfällt – , daß die auf naturgeschichtliche Bedingungen (ungünstigere geographische Lage, geringe Bevölkerung) zurückzuführende langsame ökonomische Entwicklung den Prozeß der Klassenbildung hemmen und ihm einen primitiveren Charakter geben mußte.

Es ist schwer zu sagen, welchen Weg die Geschichte der russischen Gesellschaft genommen hätte, wenn sie isoliert verlaufen und allein von ihren inneren Tendenzen beeinflußt worden wäre. Es genügt, wenn wir festhalten, daß dies nicht der Fall war. Die russische Gesellschaft, die sich auf einer bestimmten inneren ökonomischen Basis ausbildete, stand immer unter dem Einfluß, ja unter dem Druck des äußeren sozial-historischen Milieus.

Im Prozeß der Auseinandersetzung dieser ausgebildeten gesellschaftlich-staatlichen Organisation mit den anderen benachbarten spielten auf der einen Seite die Primitivität der ökonomischen Verhältnisse auf der anderen Seite deren relativ hohe Entwicklungsstufe eine entscheidende Rolle.

Der russische Staat, der sich auf einer primitiven ökonomischen Basis herausgebildet hatte, trat in Beziehung und geriet in Konflikt mit staatlichen Organisationen, die sich auf einer höheren und stabileren ökonomischen Grundlage entwickelt hatten. Hier gab es zwei Möglichkeiten: entweder mußte der russische Staat im Kampf mit ihnen untergehen, wie die Goldene Horde im Kampf mit dem Moskauer Staat untergegangen war – oder der russische Staat mußte in seiner Entwicklung die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse überholen und sehr viel mehr lebendige Energien verbrauchen als dies bei isolierter Entwicklung der Fall gewesen wäre. Für den ersten Ausweg war die russische Wirtschaft nicht primitiv genug. Der Staat zerfiel nicht, sondern begann unter einer schrecklichen Anspannung der volkswirtschaftlichen Kräfte zu wachsen.

Das Wesentliche ist somit nicht, daß Rußland ringsum von Feinden umgeben war. Das allein genügt nicht. Im Grunde gilt dies für jeden europäischen Staat außer vielleicht für England. Aber in ihrem gegenseitigen Existenzkampf stützten sich diese Staaten auf eine annähernd gleichartige ökonomische Basis, und deshalb war die Entwicklung ihrer Staatlichkeit keinem derart starken äußeren Druck ausgesetzt.

Der Kampf gegen die Krim- und die nogaischen Tataren verlangte die äußerste Kraftanstrengung; selbstverständlich jedoch keine größere als der hundertjährige Kampf Frankreichs mit England. Es waren nicht die Tataren, die das alte Rußland zwangen, Feuerwaffen einzuführen und die stehenden Strelitzenregimenter zu schaffen; es waren nicht die Tataren, die es später zwangen, die Reiterei und Soldateninfanterie zu schaffen. Es war der Druck von Seiten Litauens, Polens und Schwedens.

Als Folge dieses von Westeuropa ausgeübten Drucks verschlang der Staat einen unverhältnismäßig großen Teil des Mehrproduktes, d.h. er lebte auf Kosten der gerade formierten privilegierten Klassen und verzögerte damit deren ohnehin langsame Entwicklung. Aber das ist nicht alles. Der Staat stürzte sich auf das „notwendige Produkt“ des Bauern, beraubte ihn seiner Existenzmittel, vertrieb ihn damit von dem Boden, auf dem er sich gerade angesiedelt hatte – und hemmte so das Bevölkerungswachstum, bremste die Entwicklung der Produktivkräfte. In dem Maße also, in dem der Staat einen übermäßig großen Teil des Mehrproduktes verschlang, hinderte er die ohnehin langsame Differenzierung der Stände; und in demselben Maße, in dem er noch einen bedeutenden Teil des notwendigen Produktes wegnahm zerstörte er selbst die primitiven Produktionsgrundlagen, die seine Stütze waren.

Um aber weiterbestehen, funktionieren und sich also vor allem den hierfür notwendigen Teil des gesellschaftlichen Produkts aneignen zu können, brauchte der Staat eine ständisch-hierarchische Organisation. Daher trachtete er, während er die ökonomischen Grundlagen ihres Wachstums untergrub, zugleich danach, ihre Entwicklung durch staatliche Ordnungsmaßnahmen zu forcieren und versuchte – wie jeder andere Staat – , den Formationsprozeß der Stände in seinem Sinn zu lenken. Ein russischer Kulturhistoriker, Herr Miljukow [2], sieht darin einen direkten Gegensatz zur Geschichte des Westens. Einen Gegensatz gibt es hier jedoch nicht.

Die ständische Monarchie des Mittelalters, die sich zu einem bürokratischen Absolutismus weiterentwickelte, stellte eine Staatsform dar, in der bestimmte soziale Interessen und Beziehungen verankert waren. Diese Staatsform entwickelte aber, nachdem sie sich einmal herausgebildet und etabliert hatte, ihre eigenen Interessen (dynastische, höfische, bürokratische ...), die nicht nur mit den Interessen der niederen, sondern selbst mit denen der höheren Stände in Konflikt gerieten. Die herrschenden Stände, die eine sozial unerläßliche „Trennwand“ zwischen der Masse der Bevölkerung und der staatlichen Organisation bildeten, übten auf letztere Druck aus und machten die eigenen Interessen zum Inhalt ihrer staatlichen Praxis. Zugleich aber vertrat die Staatsgewalt ihren eigenen Standpunkt auch gegenüber den Interessen der höheren Stände. Als eine unabhängige Macht entwickelte sie Widerstand gegen deren Ansprüche und versuchte, sie sich unterzuordnen. Die tatsächliche Geschichte der Beziehungen zwischen Staat und Ständen verlief in der Richtung einer Resultante, die von dieser Kräftekonstellation bestimmt wurde. Ein im wesentlichen ähnlicher Prozeß vollzog sich auch im alten Rußland.

Der Staat versuchte, die sich entwickelnden ökonomischen Gruppen auszunutzen und sie seinen speziellen finanziellen und militärischen Interessen unterzuordnen. Die entstehenden ökonomisch herrschenden Gruppen versuchten, den Staat dafür zu benutzen, ihre Vorrechte in Form von Standesprivilegien zu sichern. In diesem sozialen Kräftespiel kam der Macht des Staates ein weit stärkeres Gewicht zu als in der Geschichte Westeuropas.

Dieser Austausch von gegenseitigen Hilfeleistungen zwischen dem Staat und den oberen gesellschaftlichen Gruppen, der seinen Ausdruck in der Verteilung von Rechten und Pflichten, von Lasten und Privilegien findet, geschieht auf Kosten des werktätigen Volkes.

Bei uns gestaltete er sich für Adel und Klerus weniger vorteilhaft als in den mittelalterlichen ständischen Monarchien Westeuropas. Dies ist unbestreitbar. Und dennoch ist es eine schreckliche Übertreibung, eine Verletzung jeglicher Perspektive, zu sagen, daß zu der Zeit, als im Westen die Stände den Staat schufen, die Staatsgewalt bei uns aus ihrem eigenen Interesse die Stände geschaffen hätte (Miljukow).

Stände lassen sich nicht auf staatlich-juristischem Wege schaffen. Bevor sich die eine oder andere gesellschaftliche Gruppe mit Hilfe der Staatsgewalt zu einem privilegierten Stand entwickeln kann, muß sie sich ökonomisch mit all ihren sozialen Vorrechten herausgebildet haben. Stände können nicht nach einer vorher geschaffenen Rangordnung oder nach dem Kodex der Legion d’honneur fabriziert werden. Die Staatsgewalt kann lediglich mit all ihren Mitteln diesem elementaren ökonomischen Prozeß zu Hilfe kommen, der die höheren ökonomischen Formationen hervorbringt. Wie wir gezeigt haben, verbrauchte der russische Staat verhältnismäßig viel Kräfte und hemmte dadurch den sozialen Kristallisationsprozeß, dessen er doch selber bedurfte. Es ist deshalb natürlich, daß er unter dem Einfluß und dem Druck der differenzierteren westlichen Umwelt (einem Druck, der über die militärstaatliche Organisation vermittelt wurde) seinerseits die soziale Differenzierung auf einer primitiven ökonomischen Grundlage zu forcieren suchte. Weiter: da das Bedürfnis zur Beschleunigung dieses Prozesses durch die Schwäche der sozial-ökonomischen Entwicklung hervorgerufen war, ist es natürlich, wenn der Staat in seinen fürsorglichen Anstrengungen danach strebte, sein Machtübergewicht dazu zu benutzen, eben diese Entwicklung der Oberklassen seinem eigenen Gutdünken entsprechend zu lenken. Aber als der Staat in dieser Richtung größere Erfolge erlangen wollte, stieß er in erster Linie auf seine eigene Schwäche, auf den primitiven Charakter seiner eigenen Organisation, und dieser war, wie wir schon wissen, durch die Primitivität der Sozialstruktur bestimmt.

So wurde der auf der Grundlage der russischen Wirtschaft errichtete russische Staat durch den freundlichen und mehr noch den feindlichen Druck der benachbarten Staatsorganisationen vorwärtsgetrieben, die auf einer weiterentwickelten ökonomischen Basis entstanden waren. Von einem bestimmten Zeitpunkt an – besonders seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – trachtet der Staat danach, mit allen Kräften die natürliche ökonomische Entwicklung zu beschleunigen. Neue Zweige des Handwerks, Maschinen und Fabriken, Großproduktion und Kapital scheinen sozusagen künstliche Aufpfropfungen auf den natürlichen wirtschaftlichen Stamm zu sein. Der Kapitalismus erscheint als ein Kind des Staates.

Von diesem Standpunkt aus kann man allerdings auch sagen, die ganze russische Wissenschaft sei ein künstliches Produkt staatlicher Bemühungen, sei künstlich auf den natürlichen Stamm nationaler Unwissenheit aufgesetzt. [A]

Das russische Denken entwickelte sich wie die russische Ökonomie unter dem unmittelbaren Druck des weiter fortgeschrittenen Denkens und der weiterentwickelten Wirtschaft des Westens. Da infolge des naturalwirtschaftlichen Charakters der Ökonomie, d.h. der geringen Entwicklung des Außenhandels, die Beziehungen zu anderen Ländern vornehmlich staatlichen Charakter trugen, drückte sich der Einfluß dieser Länder, noch bevor er die Form unmittelbarer wirtschaftlicher Konkurrenz annehmen konnte, in einem verschärften Kampf um die staatliche Existenz aus. Die westliche Ökonomie beeinflußte die russische über die Vermittlung des Staates. Um inmitten feindlicher und besser bewaffneter Staaten überleben zu können, war Rußland gezwungen, Fabriken, Schiffahrtsschulen, Lehrbücher über den Bau von Befestigungsanlagen usw. einzuführen. Hätte sich aber die allgemeine Bewegung der Binnenwirtschaft des riesigen Landes nicht in dieser Richtung vollzogen, hätte die Entwicklung dieser Wirtschaft nicht ein Bedürfnis nach Anwendung und Verallgemeinerung der Kenntnisse erzeugt so wären alle Bemühungen des Staates fruchtlos geblieben: die nationale Ökonomie, die sich in natürlicher Weise von der Naturalwirtschaft zu einer Geld-Waren-Wirtschaft entwickelte, reagierte nur auf solche Maßnahmen der Regierung, die dieser Entwicklung entsprachen, und nur in dem Maße, in dem sie mit ihr übereinstimmten. Die Geschichte der russischen Fabrik, des russischen Währungssystems und des Staatskredits ist ein schlagender Beweis für die oben dargelegte Auffassung.

Die meisten Industriezweige (Metall, Zucker, Erdöl, Branntwein und sogar Faserstoffe) [schreibt Professor Mendelejew] entstanden direkt unter der Einwirkung von Regierungsmaßnahmen, zuweilen auch mit Hilfe hoher Regierungssubventionen, aber besonders auch deshalb, weil die Regierung anscheinend zu allen Zeiten eine bewußte protektionistische Politik verfolgte und unter der Herrschaft Zar Alexander III. diese ganz offen auf ihre Fahne schrieb ... Die oberste Regierung, die sich mit vollem Bewußtsein an die Grundsätze des Protektionismus für Rußland hielt, war allen unseren gebildeten Klassen zusammengenommen voraus. [B]

Der gelehrte Panegyriker des Industrieprotektionismus vergißt hinzuzufügen, daß die Regierungspolitik nicht von der Sorge um die Entwicklung der Produktivkräfte diktiert wurde, sondern von rein fiskalischen und zum Teil militärtechnischen Erwägungen. Aus diesem Grunde widersprach die Schutzzollpolitik nicht selten nicht nur den fundamentalen Interessen der industriellen Entwicklung, sondern auch den privaten Interessen einzelner Unternehmergruppen. So erklärten die Baumwollfabrikanten offen, daß „die hohen Baumwollzölle heutzutage nicht zur Förderung des Baumwollanbaus, sondern allein aus fiskalischem Interesse aufrechterhalten werden“. So wie die Regierung bei der „Schaffung“ von Ständen vor allem die Abgaben an den Staat im Auge hatte, so richtete sie auch bei der „Ansiedlung“ der Industrie ihre Hauptsorge auf die Erfordernisse des Staatsfiskus. Zweifellos jedoch spielte die Autokratie keine geringe Rolle bei der Verpflanzung der industriellen Produktion auf russischen Boden.

Zu der Zeit, als die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft ein Bedürfnis nach den politischen Institutionen des Westens zu verspüren begann, war die Autokratie mit der ganzen materiellen Gewalt der europäischen Staaten ausgerüstet. Sie stützte sich auf einen zentralisierten bürokratischen Apparat, der für die Regelung neuer Verhältnisse völlig unbrauchbar, dafür aber in der Lage war, große Energie für systematische Repressionsmaßnahmen freizusetzen. Die ungeheuren Entfernungen des Landes waren mit dem Telegraphen überwunden worden, der den Aktionen der Verwaltung Sicherheit, relative Einheitlichkeit und Schnelligkeit (bei Unterdrückungsmaßnahmen) verlieh; die Eisenbahnen erlaubten es, Militärtruppen in kurzer Zeit vom einen Ende des Landes zum anderen zu verlegen. Die vorrevolutionären Regierungen Europas kannten Eisenbahnen und Telegraphen kaum. Die dem Absolutismus zu Gebote stehende Armee war riesig – und wenn sie sich auch in den ersten Prüfungen des russisch-japanischen Krieges als untauglich erwiesen hat, so war sie doch gut genug für die Herrschaft im Innern. Nicht nur die Regierung des alten Frankreich, sondern auch die Regierung von 1848 kannte nichts, was der gegenwärtigen russischen Armee gleichgekommen wäre.

Während die Regierung mit Hilfe des fiskalisch-militärischen Apparats das Land aufs äußerste ausbeutete, erhöhte sie ihr jährliches Budget bis auf die Riesensumme von 2 Mrd. Rubel. Gestützt auf Heer und Budget, machte die autokratische Regierung die europäische Börse zu ihrem Schatzamt und den russischen Steuerzahler zum hoffnungslosen Tributpflichtigen dieser Börse.

So stellte sich die Regierung Rußlands in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der Welt als eine riesenhafte militärbürokratische Steuer- und Börsenorganisation von unerschütterlicher Macht dar.

Die finanzielle und militärische Macht des Absolutismus bedrückte und blendete nicht nur die europäische Bourgeoisie, sondern auch den russischen Liberalismus und nahm ihm jeglichen Glauben an die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus. Die militärische und finanzielle Macht des Absolutismus schloß, so schien es, jede Möglichkeit einer russischen Revolution aus.

In Wirklichkeit traf das genaue Gegenteil ein.

Je zentralisierter ein Staat und je unabhängiger er von der Gesellschaft ist, desto eher verwandelt er sich zu einer autonomen Organisation, die über der Gesellschaft steht. Je größer die militärischen und finanziellen Kräfte einer solchen Organisation sind, desto länger und erfolgreicher kann sie um ihre Existenz kämpfen. Der zentralistische Staat mit seinem 2-Mrd.-Budget, seinen 8-Mrd.-Schulden und den bewaffneten Millionen seiner Armee konnte sich auch noch halten, als er schon längst aufgehört hatte, die elementarsten Bedürfnisse der gesellschaftlichen Entwicklung zu befriedigen – nicht allein das Bedürfnis nach einer inneren Verwaltung, sondern selbst das Bedürfnis nach militärischer Sicherheit, die zu gewähren er ursprünglich geschaffen war.

Je länger dieser Zustand anhielt, desto größer wurde der Widerspruch zwischen den Forderungen des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts und der Regierungspolitik, die ihre eigene „milliardenfache“ Trägheit entwickelt hatte. Nachdem sie die Epoche der großen Flickreformen – die diesen Widerspruch nicht nur nicht beseitigten, sondern ihn im Gegenteil erstmals deutlich enthüllten – hinter sich gebracht hatte, wurde es für die Regierung objektiv immer schwieriger und psychologisch immer weniger möglich, von selbst den Weg zum Parlamentarismus einzuschlagen. Der einzige Ausweg aus dem Widerspruch, der sich der Gesellschaft in dieser Situation anbot, bestand darin, in dem eisernen Kessel des Absolutismus genügend revolutionären Dampf anzusammeln. um ihn zu sprengen.

So schloß die administrative, militärische und finanzielle Macht des Absolutismus, die ihm die Möglichkeit gegeben hatte, sich im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten, nicht nur die Möglichkeit einer Revolution nicht aus, wie der Liberalismus dachte, sondern sie machte die Revolution im Gegenteil zum einzigen Ausweg – dabei war der Revolution ein um so radikalerer Charakter sicher, je mehr die Macht des Absolutismus den Abgrund zwischen sich und der Nation vertiefte.

Der russische Marxismus kann mit Recht stolz darauf sein, daß er allein die Richtung dieser Entwicklung aufgezeigt und ihre allgemeinen Formen [C] zu einer Zeit vorhergesagt hat, da der Liberalismus sich von dem utopischen „Praktizismus“ nährte und die revolutionäre Bewegung der Volkstümler von Phantasmagorien und Wunderglauben lebte.

Die gesamte zurückliegende soziale Entwicklung machte die Revolution unvermeidlich. Welches aber waren die Kräfte dieser Revolution?

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Fußnoten von Trotzki

A. Es genügt, sich die charakteristischen Merkmale der ursprünglichen Beziehung von Staat und Schule zu vergegenwärtigen, um festzustellen, daß die Schule ein zumindest ebenso „künstliches“ Produkt des Staates gewesen ist wie die Fabrik. Die Bildungsbemühungen des Staates illustrieren diese „Künstlichkeit“. Nicht erscheinende Schüler wurden in Ketten gelegt; die ganze Schule lag in Ketten. Unterricht war Dienst. Den Schülern wurden Gehälter gezahlt usw. usw.

B. D. Medelejew, K poznaniju Rossii [Zum Verständnis Rußlands], St. Petersburg 1906, S.84

C. Selbst ein so reaktionärer Bürokrat wie Prof. Mendelejew kann nicht umhin, dies zuzugeben. In seiner Schilderung der industriellen Entwicklung bemerkt er: „Die Sozialisten erkannten hier etwas und verstanden es sogar zum Teil, aber ihrem Lateinertum [!] folgend, gingen sie in die Irre, indem sie empfahlen, zur Gewalt zu greifen, den tierischen Instinkten des Pöbels freien Lauf ließen und nach Umstürzen und Macht strebten.“ (K poznaniju Rossii, S.120)

Anmerkungen

2. P. Miljukow, Otscherki po istorii russkoj kul’tury (Skizzen zur Geschichte der russischen Kultur), St. Petersburg 1896ff.


2. Stadt und Kapital

Die städtische Entwicklung in Rußland ist ein Produkt der neuesten Geschichte, genauer – der letzten Jahrzehnte. Gegen Ende der Herrschaft Peter I., im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, betrug die städtische Bevölkerung etwas mehr als 328.000 Menschen, etwa 3% der Bevölkerung des Landes. Gegen Ende desselben Jahrhunderts betrug sie 1.301.000, etwa 4,1% der Gesamtbevölkerung. 1812 war die städtische Bevölkerung auf 1.653.000 angewachsen, das waren 4,4% Mitte des 19. Jahrhunderts zählten die Städte noch immer erst 3.482.000, – 7,8% Nach der letzten Volkszählung (1897) schließlich ist nun eine Bevölkerungszahl der Städte von 16.289.000 ermittelt worden, was ungefähr 13% der Gesamtbevölkerung ausmacht. [A]

Betrachten wir die Stadt nicht nur als eine Verwaltungseinheit, sondern als eine sozial-ökonomische Formation, so müssen wir zugeben, daß die genannten Zahlen kein wirkliches Bild der Entwicklung der Städte geben: die russische Staatspraxis kennt massenhafte Verleihungen von Stadtrechten wie auch massenhafte Aberkennungen dieser Privilegien, ohne daß hierbei wissenschaftliche Erwägungen irgendeine Rolle gespielt haben. Trotzdem geht aus den Zahlen sowohl die Bedeutungslosigkeit der Städte im Rußland vor den Reformen hervor wie auch ihr fieberhaft schnelles Wachsen während der letzten Jahrzehnte. Nach den Berechnungen von Herrn Michailowski betrug das Wachstum der Stadtbevölkerung zwischen 1885 und 1887 33,8%., d.h. es war mehr als doppelt so groß wie das allgemeine Bevölkerungswachstum Rußlands (15,25%.) und fast dreimal so groß wie der Zuwachs der Landbevölkerung (12,7%.). Wenn wir die Dörfer und Kleinstädte mit Industrie hinzunehmen, so zeigt sich das rasche Zunehmen der städtischen (nichtlandwirtschaftlichen) Bevölkerung noch deutlicher.

Aber die modernen russischen Städte unterscheiden sich von den alten nicht nur ihrer Einwohnerzahl, sondern auch ihrem sozialen Charakter nach: sie sind Zentren von Industrie und Handel. Die Mehrzahl unserer alten Städte spielte fast gar keine wirtschaftliche Rolle; sie waren militärisch administrative Punkte oder Festungen, ihre Bevölkerung war dienstpflichtig und wurde von der Staatskasse unterhalten. Im allgemeinen war die Stadt das Zentrum der Verwaltung, des Militärs und der Steuererhebung.

Siedelte sich die nicht dienstpflichtige Bevölkerung im Weichbild der Stadt oder in ihrer Nähe an, um vor Feinden Schutz zu suchen, so hinderte sie das nicht im mindesten daran, sich wie früher mit dem Ackerbau zu befassen. Selbst Moskau, die größte Stadt des alten Rußland, war nach den Ausführungen Herrn Miljukows lediglich „ein Zarensitz, dessen Bewohner zu einem beachtlichen Teil auf diese oder jene Art mit dem Hof verbunden waren, entweder als Gefolge, als Garde oder als Gesinde. Von mehr als 16.000 Haushalten, die nach dem Zensus von 1701 in Moskau gezählt wurden, waren nicht mehr als 7.000 (44%.) Händler und Handwerker, und selbst diese lebten in der Nähe des Hofes und arbeiteten für seinen Bedarf. Die übrigen 9.000 Haushaltungen gehörten zum Klerus (1.500) und dem herrschenden Stand.“ Mithin spielte die russische Stadt, ähnlich wie die Städte der asiatischen Despotien und im Unterschied zu den Handwerks- und Handelsstädten des Mittelalters, eine reine konsumptive Rolle. Zu derselben Zeit, als die zeitgenössische westliche Stadt mehr oder weniger siegreich das Prinzip verteidigte, daß Handwerker kein Recht hatten, auf dem Dorf zu leben, waren der russischen Stadt solche Ziele noch vollständig fremd. Wo aber gab es eine verarbeitende Industrie, ein Handwerk? Auf dem Dorfe, in der Landwirtschaft. Das niedrige wirtschaftliche Niveau ließ bei der intensiven Ausplünderung durch den Staat keinen Raum für die Akkumulation von Reichtum und für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Der im Vergleich zum Westen kürzere Sommer brachte eine längere Winterruhe mit sich. Dies alles führte dazu, daß sich die verarbeitende Industrie nicht vom Ackerbau trennte, sich nicht in den Städten konzentrierte, sondern als landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung im Dorf blieb. Als bei uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der kapitalistischen Industrie in großem Stil einsetzte, fand sie kein städtisches Gewerbe, sondern hauptsächlich das dörfliche Kustar’-Handwerk [3] vor. „Den höchstens 1½ Millionen Fabrikarbeitern, die es in Rußland gibt“, schreibt Herr Miljukow, „stehen nicht weniger als 4 Millionen Bauern gegenüber, die bei sich auf dem Dorfe im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt sind, ohne dabei den Ackerbau aufzugeben. Gerade diese Klasse, aus der ... die europäische Fabrik entstand, beteiligte sich in keiner Weise ... beim Aufbau der russischen Industrie.“

Natürlich schuf das weitere Wachstum der Bevölkerung und ihrer Produktivität eine Basis für die gesellschaftliche Arbeitsteilung und selbstverständlich auch für das städtische Handwerk. Aber durch den wirtschaftlichen Druck der fortgeschrittenen Länder bemächtigte sich sofort die kapitalistische Großindustrie dieser Basis, so daß für das Aufblühen eines städtischen Handwerks nicht genügend Zeit war.

Die vier Millionen Kustar’-Handwerker waren genau die Elemente, die in Europa den Kern der Stadtbevölkerung gebildet hatten, die als Meister oder Gesellen in die Zünfte eintraten und in der Folgezeit mehr und mehr außerhalb der Zünfte blieben. Es war gerade diese Handwerkerschicht, die in den revolutionärsten Vierteln von Paris während der Großen Revolution den Hauptteil der Bevölkerung ausmachte. Schon allein diese Tatsache – die Bedeutungslosigkeit des städtischen Handwerks – hat unermeßliche Konsequenzen für unsere Revolution. [B]

Das wesentliche ökonomische Merkmal der zeitgenössischen Stadt ist es, daß sie Rohstoffe verarbeitet, mit denen sie vom Lande versorgt wird; aus diesem Grunde sind für sie die Transportbedingungen entscheidend. Nur die Einführung der Eisenbahnen konnte das Umland, das die Stadt versorgte so ausweiten, daß es möglich wurde, Hunderttausende von Menschen zusammenzuballen; die Notwendigkeit für eine solche Anhäufung ergab sich aus der großen Fabrikindustrie. Der Bevölkerungskern einer modernen Stadt, zumindest einer Stadt von wirtschaftlicher und politischer Bedeutung, ist die deutlich abgeschiedene Klasse der Lohnarbeiter. Eben diese Klasse, die während der Zeit der Großen Französischen Revolution im wesentlichen noch unbekannt war, sollte die entscheidende Rolle in unserer Revolution spielen.

Das industrielle Fabriksystem stellt nicht nur das Proletariat an die vorderste Front, es entzieht auch der bürgerlichen Demokratie den Boden. Diese fand in früheren Revolutionen Unterstützung beim städtischen Kleinbürgertum: Handwerkern, kleinen Händlern usw. Ein anderer Grund für die unverhältnismäßig große politische Rolle des russischen Proletariats ist die Tatsache, daß das russische Kapital zu einem beträchtlichen Teil eingewandert ist. Dies führte nach Kautsky dazu, daß das Proletariat an Zahl, Kraft und Einfluß in einer Weise zunahm, die zum Wachstum des bürgerlichen Liberalismus in keinem Verhältnis stand.

Wie wir bereits ausführten, entwickelte sich der Kapitalismus bei uns nicht aus dem Handwerk. Als er Rußland eroberte, verfügte er über die Wirtschaftskultur ganz Europas, hatte als nächsten Konkurrenten nur den hilflosen Kustar’-Handwerker oder den ruinierten städtischen Gewerbetreibenden vor sich und besaß als Arbeitskräftereservoir den halb verarmten Bauern. Von verschiedenen Seiten half der Absolutismus bei der kapitalistischen Unterjochung des Landes.

Zunächst verwandelte er den russischen Bauern in einen Zinspflichtigen der Weltbörse. Das Fehlen von Kapital im Lande, nach dem der Staat ständig verlangte, bereitete den Boden für wucherische Bedingungen bei den Auslandsanleihen. Von der Herrschaft Katharina II. bis zum Ministerium Witte-Durnowo [4] arbeiteten Amsterdamer, Londoner, Pariser und Berliner Bankiers an der Umwandlung der Autokratie in ein riesiges Spekulationsobjekt der Börse. Ein beachtlicher Teil der sogenannten Inlandsanleihen, die durch inländische Kreditanstalten realisiert wurden, unterschied sich in nichts von Auslandsanleihen, denn er wurde faktisch bei ausländischen Kapitalisten untergebracht. Während der Absolutismus den Bauern durch hohe Steuern proletarisierte und pauperisierte, verwandelte er die Millionen der europäischen Börse in Soldaten, Panzerkreuzer, in Einzelhaftsgefängnisse und Eisenbahnen. Der größere Teil dieser Ausgaben war vom wirtschaftlichen Standpunkt aus absolut unproduktiv. Ein außerordentlich großer Teil des Nationalprodukts wurde in Form von Zinsen ans Ausland gezahlt und bereicherte und stärkte die Finanzaristokratie Europas. Die europäische Finanzbourgeoisie, deren politischer Einfluß während der letzten Jahrzehnte in parlamentarisch regierten Ländern ununterbrochen zunimmt und den Einfluß der Industrie- und Handelskapitalisten zurückdrängt, hat wahrhaftig die zaristische Regierung zu ihrem Vasallen gemacht. Aber sie konnte und wollte nicht zu einem Teil der bürgerlichen Opposition im Innern Rußlands werden und wurde dies auch nicht. In ihren Sympathien und Antipathien ließ sie sich von dem Grundsatz leiten, den die holländischen Bankiers Hoppe und Co. schon in den Bedingungen für die Anleihe Zar Pauls im Jahre 1798 formuliert hatten: „Die Zinsen sind ohne Rücksicht auf politische Umstände zu zahlen.“ Die europäische Börse war sogar direkt und unmittelbar an der Aufrechterhaltung des Absolutismus interessiert: denn keine andere Regierung konnte ihr derartige Wucherzinsen garantieren. Aber die Staatsanleihen waren nicht der einzige Weg, auf dem europäische Kapitalien nach Rußland importiert wurden. Dasselbe Geld, das einen großen Teil des russischen Staatshaushaltes verschlang, kam nach Rußland als Handels- und Industriekapital zurück, angezogen von seinen unberührten natürlichen Reichtümern und hauptsächlich von seiner unorganisierten und nicht an Widerstand gewöhnten Arbeitskraft. Die jüngste Periode unseres industriellen Aufschwungs von 1893 bis 1899 war zugleich eine Periode verstärkter Einwanderung europäischen Kapitals. Dieses Kapital also, das nach wie vor größtenteils in europäischer Hand blieb und seine politische Macht in den Parlamenten Frankreichs oder Belgiens realisierte, mobilisierte auf russischem Boden die Arbeiterklasse.

Das europäische Kapital warf seine hauptsächlichen Produktionszweige und Verkehrsmittel in dieses ökonomisch zurückgebliebene Land und versklavte es; dabei übersprang es eine ganze Reihe technischer und ökonomischer Zwischenstadien, die es in seiner Heimat zu durchlaufen hatte. Aber je weniger Hindernissen es auf dem Weg zu seiner ökonomischen Vorherrschaft begegnete, desto unbedeutender erwies sich seine politische Rolle.

Die europäische Bourgeoisie entwickelte sich aus dem Dritten Stand des Mittelalters. Sie erhob das Banner des Protestes gegen Plünderung und Gewaltausübung seitens des ersten und zweiten Standes im Namen der Interessen des Volkes, das sie selbst auszubeuten wünschte. In ihrem Kampf gegen die Ansprüche von Klerus und Adel stützte sich die mittelalterliche Ständemonarchie während ihrer Umwandlung in einen bürokratischen Absolutismus auf die Bevölkerung der Städte. Die Bourgeoisie machte sich dies für ihren eigenen staatlichen Aufstieg zunutze. So entwickelten sich der bürokratische Absolutismus und die kapitalistische Klasse zur gleichen Zeit – und als sie 1789 zusammenprallten, da zeigte sich, daß die Bourgeoisie die ganze Nation hinter sich hatte.

Der russische Absolutismus entwickelte sieh unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom „Volk“ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.

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Fußnoten von Trotzki

A. Diese Zahlen haben wir den Otscherki Herrn Miljukows entnommen. Die städtische Bevölkerung Gesamtrußlands, unter Einschluß Sibiriens und Finnlands, ist nach der Volkszählung von 1897 mit 17.122.000 oder 13¼%. ermittelt worden. (D. Mendelejew, K poznaniju Rossii, St. Petersburg 1906, 2. Aufl., Tab. S.90)

B. Zu einer Zeit, in der die unkritische Gleichsetzung der russischen Revolution mit der französischen Revolution von 1789 zu einem Gemeinplatz geworden war, sah Gen. Parvus sehr scharfsinnig in diesem Umstand die Ursache für den besonderen Verlauf der Revolution.

Anmerkungen

3. Bäuerliches Kleingewerbe, dem besonders in den waldreichen nördlichen Gouvernements auch noch nach der Oktoberrevolution eine große wirtschaftliche Bedeutung zukam.

4. Dieses Ministerium Witte, in dem P.N. Durnowo Innenminister war, bestand vom Oktober 1905 bis Mai 1906.


3. 1789 – 1848 – 1905 ...

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wie oft man auch die russische Revolution mit der Großen Französischen Revolution vergleichen mag, die eine wird dadurch noch lange nicht eine bloße Wiederholung der zweiten. Das 19. Jahrhundert ist nicht umsonst vergangen.

Schon das Jahr 1848 stellt einen riesigen Unterschied gegenüber 1789 dar. Im Vergleich zur Großen Revolution überraschten die preußische oder österreichische durch ihre Schwunglosigkeit. Sie kamen einerseits zu früh, andererseits zu spät. Die gigantische Kraftanstrengung, die die bürgerliche Gesellschaft braucht, um radikal mit den Herren der Vergangenheit abzurechnen, kann nur entweder durch die machtvolle Einheit der ganzen Nation, die sich gegen den feudalen Despotismus erhebt, oder durch eine mächtige Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb dieser sich emanzipierenden Nation erreicht werden. Im ersten Fall, der zwischen 1789 und 1793 gegeben war, wird die durch den schrecklichen Widerstand der alten Ordnung konzentrierte nationale Energie im Kampf gegen die Reaktion völlig verbraucht. Im zweiten Fall, der bisher in der Geschichte noch nicht dagewesen ist und den wir lediglich als Möglichkeit erwägen, wird das Maß an Energie, das zum Sieg über die dunklen Mächte der Vergangenheit notwendig ist, innerhalb der bürgerlichen Nation durch einen „strittigen“ Klassenkampf erzeugt. Die harten inneren Konflikte, die einen Großteil der Energie verschlingen und der Bourgeoisie die Möglichkeit rauben, die Hauptrolle zu spielen, stoßen ihren Antagonisten vorwärts, geben ihm in einem Monat die Erfahrungen von Jahrzehnten, stellen ihn an die vorderste Front und händigen ihm die straffgezogenen Zügel aus. Entschieden, keine Zweifel kennend, verleiht er den Ereignissen einen mächtigen Schwung.

Entweder eine Nation, die sich wie ein zum Sprung ansetzender Löwe zu einem Ganzen zusammenzieht, oder eine Nation, die sich im Prozeß des Kampfes endgültig gespalten hat, um ihren besten Teil für die Erfüllung der Aufgabe freizumachen, für die das Ganze nicht mehr Kraft genug hat. Dies sind zwei entgegengesetzte Typen, die sich in ihrer reinen Form natürlich nur theoretisch gegenüberstellen lassen.

Ein Mittelweg ist hier wie in so vielen anderen Fällen, das allerschlimmste; auf diesem Mittelweg befand sich das Jahr 1848.

In der heroischen Periode der französischen Geschichte sehen wir eine aufgeklärte, aktive Bourgeoisie vor uns, die noch nicht die Widersprüche ihrer Position entdeckt hatte. Die Geschichte hatte ihr die Aufgabe der Führung im Kampf um die neue Ordnung der Verhältnisse nicht nur gegen die überholten Institutionen Frankreichs, sondern auch gegen die reaktionären Kräfte ganz Europas übertragen. Die Bourgeoisie begreift sich folglich in allen ihren Fraktionen insgesamt als der Führer der Nation, zieht die Massen in den Kampf hinein, gibt ihnen die Losungen und diktiert ihnen die Taktik des Kampfes. Die Demokratie vereint die Nation unter einer politischen Ideologie. Das Volk – Kleinbürger, Bauern und Arbeiter – wählt Bürger zu seinen Deputierten, und die Aufträge, die ihnen von der Masse erteilt werden, sind in der Sprache einer Bourgeoisie niedergeschrieben, die sich ihrer messianischen Rolle bewußt ist. Während der Revolution selbst treten Klassenantagonismen zwar auch deutlich hervor, aber der einmal erreichte Schwung des revolutionären Kampfes räumt konsequent die verknöcherten Elemente der Bourgeoisie politisch aus dem Weg. Keine Schicht löst sich ab, ohne vorher ihre Energie auf die nachfolgenden zu übertragen. Die Nation als ganze setzt dabei den Kampf für ihre Ziele mit immer schärferen und entschlosseneren Mitteln fort. Als sich die Spitzen der vermögenden Bourgeoisie von dem Kern der in Gang gekommenen nationalen Bewegung lossagen und ein Bündnis mit Ludwig XVI. eingehen, führen die demokratischen Forderungen der Nation, die bereits gegen diese Bourgeoisie gerichtet sind, zum allgemeinen Wahlrecht und zur Republik als den logisch unvermeidlichen Formen der Demokratie.

Die Große Französische Revolution ist in der Tat eine nationale Revolution. Mehr noch: hier findet im nationalen Rahmen der weltweite Kampf der bürgerlichen Gesellschaftsordnung um Herrschaft, Macht und ungeteilten Sieg seinen klassischen Ausdruck.

Jakobinismus ist heute ein Schimpfwort auf den Lippen aller liberalen Klugschwätzer. Der bürgerliche Haß auf die Revolution, auf die Massen, auf die Gewalt, auf die Macht der Geschichte, die auf der Straße gemacht wird, hat sich zu einem Schrei der Entrüstung und Angst konzentriert: Jakobinismus! Wir, die Weltarmee des Kommunismus, haben unsere historische Abrechnung mit dem Jakobinertum schon lange hinter uns. Die gesamte internationale proletarische Bewegung der Gegenwart ist entstanden und erstarkt in der Auseinandersetzung mit den Traditionen des Jakobinismus. Wir haben ihn einer theoretischen Kritik unterworfen, seine historische Beschränktheit aufgezeigt, seine gesellschaftliche Widersprüchlichkeit, seinen Utopismus, seine Phraseologie entlarvt, wir haben mit seinen Überlieferungen gebrochen, die jahrzehntelang als heiliges Erbe der Revolution gegolten hatten.

Aber gegen die Angriffe, Verleumdungen und geistlosen Beschimpfungen von Seiten des blutleeren phlegmatischen Liberalismus nehmen wir den Jakobinismus in Schutz. Das Bürgertum hat alle Traditionen seiner historischen Jugend schmählich verraten, seine gegenwärtigen Söldlinge entehren die Gräber seiner Ahnen und verlästern die Überreste seiner Ideale. Das Proletariat nimmt die Ehre der revolutionären Vergangenheit des Bürgertums in Schutz. Das Proletariat, das in seiner Praxis so radikal mit den revolutionären Traditionen des Bürgertums gebrochen hat, schützt diese als das Erbe von großen Leidenschaften, von Heroismus und Initiative, und sein Herz schlägt voller Sympathie für die Reden und Taten des jakobinischen Konvents.

Was verlieh dem Liberalismus seine Anziehungskraft wenn nicht die Traditionen der Großen Französischen Revolution! In welcher anderen Periode stieg die bürgerliche Demokratie zu solcher Höhe empor, entzündete eine solche Flamme im Herzen des Volkes wie die jakobinische, sansculottische, terroristische Demokratie Robespierres vom Jahre 1793?

War es denn nicht der Jakobinismus, der es dem bürgerlichen französischen Radikalismus verschiedener Schattierungen ermöglichte und noch immer ermöglicht, einen riesigen Teil des Volkes, selbst des Proletariats, bis auf den heutigen Tag in Bann zu halten – und dies zu einer Zeit, wo der bürgerliche Radikalismus in Deutschland und Österreich seine kurze Geschichte mit nutzlosen und kläglichen Taten ausgefüllt hat?

War es denn nicht die Anziehungskraft des Jakobinismus, seiner abstrakten politischen Ideologie, seines Kultes der Heiligen Republik, seiner feierlichen Deklamationen, von dem sich selbst heute noch die französische Radikalen und Radikalsozialisten wie Clemenceau, Millerand, Briand, Bourgeois und all die Politiker ernähren, die die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft nicht schlechter zu bewahren verstehen als die von Gottes Gnaden stumpfsinnigen Junker Wilhelms II., die von der bürgerlichen Demokratie anderer Länder so hoffnungslos beneidet werden, während sie zur gleichen Zeit die Quelle ihrer politischen Vorzugsstellung – den heroischen Jakobinismus – mit Verleumdungen überschütten? Selbst nachdem viele Hoffnungen zerstört waren, lebte er im Bewußtsein des Volkes als Überlieferung weiter; noch lange sprach das Proletariat von seiner Zukunft in der Sprache der Vergangenheit. Im Jahre 1840, fast ein halbes Jahrhundert nach der Regierung der „Bergpartei“, acht Jahre vor den Junitagen des Jahres 48, besuchte Heine mehrere Werkstätten in der Vorstadt Saint-Marceau und sah, was die Arbeiter, „der kräftigste Teil der unteren Klasse“, lasen. „Dort fand ich nämlich“, so berichtet er an eine deutsche Zeitung, „mehrere neue Ausgaben der Reden des alten Robespierre, auch von Marats Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte Cabets, Cormenins giftige Libelle, Babeufs Lehre und Verschwörung von Buonarotti – alles Schriften, die wie nach Blut rochen; „... Als eine Frucht dieser Saat“, prophezeit der Dichter, „droht aus Frankreichs Boden früher oder später die Republik hervorzubrechen.“ [5]

Im Jahre 1848 war die Bourgeoisie bereits unfähig, eine vergleichbare Rolle zu spielen. Sie war weder willens noch kühn genug, die Verantwortung für die revolutionäre Beseitigung der Gesellschaftsordnung zu übernehmen, die ihrer Herrschaft im Weg stand. Wir wissen inzwischen auch warum. Ihre Aufgabe bestand darin – hierüber legte sie sich klar Rechenschaft ab – Garantien in das alte System einzubauen, die nicht für ihre politische Herrschaft, sondern lediglich für eine Teilung der Macht mit den Kräften der Vergangenheit notwendig waren. Sie hatte ein wenig gelernt durch die Erfahrung der französischen Bourgeoisie, war korrumpiert durch ihren Verrat und eingeschüchtert von ihren Fehlschlägen. Sie versäumte nicht nur, die Massen zum Sturm auf die alte Ordnung anzuführen, sondern suchte ihren Rückhalt bei der alten Ordnung, um die Masse abzuwehren, die sie vorwärtsstieß.

Die französische Bourgeoisie verstand es, ihre Revolution groß zu machen. Ihr Bewußtsein war das Bewußtsein der Gesellschaft, und nichts konnte sich in feste Institutionen verwandeln, ohne vorher von ihrem Bewußtsein als ihr Ziel, als ihre Aufgabe politischer Schöpferkraft anerkannt zu werden. Häufig griff sie zur theatralischen Pose, um die Beschränktheit ihrer eigenen bürgerlichen Welt vor sich selbst zu verbergen – aber sie marschierte vorwärts.

Die deutsche Bourgeoisie hingegen „machte“ von Anfang an die Revolution nicht, sondern sagte sich von ihr los. Ihr Bewußtsein rebellierte gegen die objektiven Bedingungen der eigenen Herrschaft. Zur Revolution konnte es nicht durch sie, sondern nur gegen sie kommen. Demokratische Institutionen stellten sich in ihrem Kopf nicht als das Ziel ihres Kampfes dar, sondern als eine Gefährdung ihres Wohlergehens.

Im Jahre 48 bedurfte es einer Klasse, die fähig gewesen wäre, die Ereignisse ohne die Bourgeoisie und im Widerspruch zu ihr in die Hand zu nehmen, die bereit gewesen wäre, sie nicht nur mit ganzer Kraft vorwärtszustoßen, sondern auch im entscheidenden Moment ihren politischen Leichnam aus dem Wege zu räumen.

Weder das Kleinbürgertum noch die Bauernschaft war hierzu fähig.

Das städtische Kleinbürgertum stand nicht nur dem Gestern, sondern auch dem Morgen feindselig gegenüber. Noch immer war es eingezwängt in mittelalterliche Verhältnisse – aber schon unfähig, sich gegenüber der „freien“ Industrie zu behaupten; noch prägte es die Züge der Städte – aber es trat bereits seinen Einfluß an die mittlere und große Bourgeoisie ab; ertränkt in seinen Vorurteilen, betäubt vom Lärm der Ereignisse, ausgebeutet und selbst ausbeutend, gierig und hilflos in seiner Gier, konnte die zurückgebliebene Kleinbourgeoisie nicht an der Spitze der Weltereignisse stehen.

Der Bauernschaft fehlte in noch größerem Maße eine selbständige politische Initiative. Seit Jahrhunderten geknechtet, verarmt, wütend, in sich alle Fäden der alten wie der neuen Ausbeutung vereinend, stellte die Bauernschaft in einem bestimmten Moment eine reiche Quelle chaotischer revolutionärer Kraft dar. Aber zersplittert, verstreut, zurückgeworfen von den Städten, den Nervenzentren von Politik und Kultur, stumpf, in ihrem Gesichtskreis auf die nächste Umgebung beschränkt, gleichgültig gegenüber allen städtischen Gedanken, konnte der Bauernschaft keine Bedeutung als führende Kraft zukommen. Sie gab Ruhe, sobald nur die Bürde der feudalen Verpflichtungen von ihr genommen war, und sie lohnte es der Stadt, die für ihre Rechte gekämpft hatte, mit krasser Undankbarkeit: die befreiten Bauern wurden zu Fanatikern der „Ordnung“.

Die demokratische Intelligenz, ohne die Macht einer Klasse, hing bald als eine Art politischer Nachhut im Schlepptau ihrer älteren Schwester, der liberalen Bourgeoisie; dann wieder trennte sie sich von ihr in kritischen Momenten, um ihre eigene Ohnmacht unter Beweis zu stellen. Sie verfing sich selbst in unlösbaren Widersprüchen und trug diese Verwirrung überall mit sich herum.

Das Proletariat war zu schwach, war ohne Organisation, ohne Erfahrung und Wissen. Die kapitalistische Entwicklung war weit genug gegangen, um die Abschaffung der alten feudalen Verhältnisse notwendig zu machen, aber nicht weit genug, um die Arbeiterklasse, das Produkt der neuen Produktionsverhältnisse, als eine entscheidende politische Kraft hervortreten zu lassen. Der Antagonismus zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie hatte sich selbst im nationalen Rahmen Deutschlands zu weit entwickelt, als daß es der Bourgeoisie noch möglich gewesen wäre, furchtlos in der Rolle eines nationalen Vorkämpfers zu figurieren, aber nicht weit genug, als daß diese Rolle vom Proletariat hätte übernommen werden können. Die inneren Reibungen der Revolution bereiteten das Proletariat zwar auf die politische Selbständigkeit vor, schwächten aber zugleich die Energie und Geschlossenheit der Aktion, ließen die Kräfte fruchtlos vergeuden und zwangen die Revolution, nach den ersten Erfolgen untätig auf der Stelle zu treten, um dann unter den Schläger der Reaktion den Rückzug anzutreten.

Österreich hat ein besonders klares und tragisches Musterbeispiel für diese Unreife und Unabgeschlossenheit politischer Verhältnisse in der Revolutionsperiode geliefert.

Das Wiener Proletariat zeigte 1848 einen erstaunlichen Heroismus und unerschöpfliche Energie. Wieder und wieder ging es in das Feuer, allein getrieben von einem dumpfen Klasseninstinkt, ohne eine allgemeine Vorstellung von den Zielen des Kampfes; es tastete sich von einer Losung zur anderen. Die Führung des Proletariats ging – erstaunlicherweise – auf die Studentenschaft über, die einzige aktive demokratische Gruppe, die dank ihrer Aktivität einen großen Einfluß auf die Massen und folglich auch auf die Ereignisse hatte. Die Studenten konnten zweifellos tapfer auf den Barrikaden kämpfen und sich ehrenvoll mit den Arbeitern verbrüdern, aber sie waren völlig unfähig, dem Fortgang der Revolution, der ihnen die „Diktatur“ der Straße übergeben hatte, die Richtung zu weisen.

Das Proletariat, zersplittert, ohne politische Erfahrung und ohne selbständige politische Führung, folgte den Studenten. In jedem kritischen Augenblick boten die Arbeiter unbeirrbar den „Herren, die mit dem Kopf arbeiten“ die Hilfe derer an, „die mit ihren Händen arbeiten“. Einmal riefen die Studenten die Arbeiter zusammen, dann wieder versperrten sie ihnen den Weg in das Stadtzentrum. Mitunter verboten sie ihnen kraft ihrer politischen Autorität, die auf den Waffen der akademischen Legion beruhte, eigene selbständige Forderungen zu erheben. Es war dies die klassisch-klare Form der wohlwollenden revolutionären Diktatur über das Proletariat.

Folgendes war das Ergebnis dieser gesellschaftlichen Umstände. Als am 26. Mai alle Arbeiter Wiens dem Ruf der Studenten folgten und sich auf die Beine machten, um gegen die Entwaffnung der Studentenschaft (der „akademischen Legion“) zu kämpfen, als die Bevölkerung der Hauptstadt, die alles mit Barrikaden übersäte, sich als erstaunlich mächtig erwies und von der ganzen Stadt Besitz ergriffen hatte, als hinter dem bewaffneten Wien Österreich stand, als die Monarchie, die sich auf der Flucht befand, jede Bedeutung verloren hatte, als auf den Druck des Volkes hin auch die letzten Truppen aus der Hauptstadt abgezogen worden waren, als die Regierungsmacht Österreichs ein herrenloses Gut war – da fand sich keine politische Kraft, das Steuer zu übernehmen.

Die liberale Bourgeoisie wollte die Macht bewußt nicht übernehmen, die auf so räuberischem Weg übernommen worden war. Sie träumte nur von der Rückkehr des Kaisers, der sich aus dem verwaisten Wien nach Tirol zurückgezogen hatte.

Die Arbeiter waren tapfer genug, die Reaktion zu zerschlagen, aber nicht organisiert und bewußt genug, um deren Erbe anzutreten. Es gab eine kraftvolle Arbeiterbewegung, aber noch keinen entwickelten Klassenkampf des Proletariats, der sich bestimmte politische Ziele gesetzt hätte. Unfähig, selbst das Ruder zu ergreifen, konnte das Proletariat zu dieser großen historischen Tat auch nicht die bürgerliche Demokratie bewegen, die sich – wie schon so oft – im entscheidenden Augenblick versteckte. Um diesen Feigling zur Erfüllung seiner Pflichten zu zwingen, hätte das Proletariat auf jeden Fall nicht weniger Kraft und Reife benötigt als für die Organisation einer eigenen provisorischen Arbeiterregierung.

Alles in allem war es eine Situation, die ein Zeitgenosse völlig zutreffend mit den Worten charakterisiert: „In Wien war tatsächlich die Republik errichtet worden, aber unglücklicherweise bemerkte dies niemand“ ... Die Republik, von niemandem zur Kenntnis genommen, verschwand für lange Zeit von der Bildfläche und gab den Habsburgern den Weg frei ... Eine einmal verpaßte Gelegenheit kehrt nicht ein zweites Mal wieder.

Aus den Erfahrungen der ungarischen und deutschen Revolution zog Lassalle den Schluß, daß sich die Revolution von nun an nur noch auf den Kassenkampf des Proletariats stützen kann.

In seinem Brief an Marx vom 24. Oktober 1849 schreibt Lassalle: „Ungarn hatte mehr als jedes andere Land die Chance, den Kampf glücklich zu vollenden. Unter anderen Gründen aber auch deswegen, weil die Parteien dort noch nicht zu der bestimmten Trennung, zu dem scharfen Gegensatz gekommen waren wie in Westeuropa, weil die Revolution dort noch wesentlich in die Form eines nationalen Unabhängigkeitskampfes eingehüllt war. Dennoch unterlag Ungarn, und zwar gerade durch den Verrat der nationalen Partei.“

„Daher“, fährt Lassalle im Zusammenhang der Geschichte Deutschlands während der Jahre 1848 und 1849 fort, „habe ich die unerschütterliche Lehre gezogen, daß kein Kampf mehr in Europa glücken kann, der nicht von vornherein ein prononziert rein sozialistischer ist; daß kein Kampf mehr glücken wird, der die sozialen Fragen bloß als dunkles Element, als an sich seienden Hintergrund in sich trägt und äußerlich in der Form einer nationalen Erhebung oder des Bourgeoisrepublikanismus auftritt.“ [6]

Wir werden uns nicht bei der Kritik dieser entscheidenden Schlußfolgerungen aufhalten. Auf jeden Fall haben sie darin unbedingt recht, daß schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die nationale Aufgabe der politischen Emanzipation nicht durch den einmütigen und homogenen Druck der ganzen Nation gelöst werden konnte. Nur die unabhängige Taktik des Proletariats, das die Kraft für den Kampf aus seiner Klassenlage und nur aus ihr schöpfte, hätte den Sieg der Revolution gewährleisten können.

Die russische Arbeiterklasse des Jahres 1906 gleicht in keiner Weise der Wiener Arbeiterklasse von 48. Und der beste Beweis dafür ist die allrussische Praxis der Sowjets der Arbeiterdeputierten. Das waren keine genau vorbereiteten Verschwörerorganisationen, die in einem Moment der Erregung die Macht über die proletarische Masse ergriffen hatten. Nein, das waren Organe, die von dieser Masse selbst planmäßig zur Koordinierung ihres revolutionären Kampfes geschaffen wurden. Und diese, von der Masse gewählten und der Masse verantwortlichen Sowjets, diese unbedingt demokratischen Einrichtungen, führen eine äußerst entscheidende Klassenpolitik im Geiste des revolutionären Sozialismus.

Die gesellschaftlichen Besonderheiten der russischen Revolution erscheinen besonders deutlich in der Frage der Bewaffnung des Volkes. Eine Miliz (Nationalgarde) war die erste Losung und die erste Errungenschaft aller Revolutionen – 1789 und 1848 – in Paris, in allen Staaten Italiens, in Wien und Berlin. Im Jahre 48 war die Nationalgarde (d.h. die Bewaffnung der Besitzenden und „Gebildeten“) eine Losung der gesamten bürgerlichen Opposition, selbst der gemäßigtsten, aber ihre Aufgabe war nicht nur, die gewonnenen oder nur „gewährten“ Freiheiten gegen die Umsturzversuche von oben zu schützen, sondern auch, das bürgerliche Eigentum gegen die Übergriffe des Proletariats abzusichern. Das Verlangen nach einer Miliz war somit eine klare Klassenforderung der Bourgeoisie. „Die Italiener wußten sehr wohl“, bemerkt der liberale englische Historiker der italienischen Einigung, „daß die Bewaffnung der zivilen Miliz ein Fortbestehen des Despotismus unmöglich machen würde. Außerdem war sie eine Garantie für die besitzenden Klassen gegen eine mögliche Anarchie und jede Art von Volksunruhen.“ [A] Und die herrschende Reaktion, die in den wichtigsten Zentren nicht über genügend Militärmacht verfügte, um es mit der „Anarchie“, d.h. mit der revolutionären Masse aufnehmen zu können, bewaffnete die Bourgeoisie. Der Absolutismus überließ es zunächst den Bürgern, die Arbeiter zu unterdrücken und zu befrieden, und dann entwaffnete und befriedete er die Bürger selbst.

Bei uns findet die Forderung nach einer Miliz nicht die geringste Unterstützung bei den bürgerlichen Parteien. Eigentlich können die Liberalen nicht umhin, die Bedeutung der Bewaffnung zu verstehen: der Absolutismus hat ihnen in dieser Hinsicht einige anschauliche Lektionen erteilt. Aber sie verstehen auch, daß es bei uns absolut unmöglich ist, eine Miliz ohne oder gegen das Proletariat aufzustellen. Die russischen Arbeiter haben wenig Ähnlichkeit mit den Arbeitern von 48, die ihre Taschen mit Steinen vollstopften und Brecheisen zur Hand nahmen, während die Händler, Studenten und Advokaten königliche Musketen geschultert und Säbel an der Seite hatten.

Die Revolution zu bewaffnen, bedeutet bei uns vor allem die Bewaffnung der Arbeiter. Da die Liberalen dies wissen und fürchten, haben sie überhaupt auf die Miliz verzichtet. Kampflos überlassen sie dem Absolutismus diese Positionen geradeso wie der Bourgeois Thiers Paris und Frankreich Bismarck überließ, um nur nicht die Arbeiter zu bewaffnen.

In der Aufsatzsammlung Der konstitutionelle Staat, dem Manifest der liberal-demokratischen Koalition, sagt Herr Dschiwelegow in seiner Erörterung der Möglichkeit eines Staatsstreiches ganz richtig, daß „die Gesellschaft im entscheidenden Augenblick selbst die Bereitschaft zeigen muß, sich zum Schutz ihrer Verfassung zu erheben“. Da sich aber daraus ganz von selbst die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes ergibt, hält der liberale Philosoph es hier für „notwendig hinzuzufügen“, daß es für die Abwehr von Staatsstreichen „nicht im geringsten notwendig ist, daß jedermann die Waffen bereithalten müßte“. [B] Notwendig sei nur, daß die Gesellschaft selbst zum Widerstand bereit sei. Auf welchem Wege, das bleibt unbekannt. Wenn aus diesen Ausreden überhaupt etwas folgt, dann nur, daß in den Herzen unserer Demokraten die Furcht vor dem bewaffneten Proletariat die Furcht vor der Soldateska der Autokratie besiegt hat.

So fällt die Aufgabe, die Revolution zu bewaffnen, in ihrer ganzen Last dem Proletariat zu. Und die zivile Miliz, die Klassenforderung der Bourgeoisie von 48, tritt bei uns von Anfang an als die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes und vor allem des Proletariats auf. In dieser Frage enthüllt sich das ganze Schicksal der russischen Revolution.

Fußnoten von Trotzki

A. Bol’ton King, Istorija obedinenija Italii [Geschichte der Einigung Italiens], Moskau, Bd.1, S.220.

B. Konstituzionnoje gosudarstwo, sbornik statej [Der konstitutionelle Staat, Aufsatzsammlung], 1. Aufl., S.49.

Anmerkungen

5. Lutetia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, Brief vom 30. April 1840, in: H. Heine, Werke und Briefe, Berlin 1962, Bd.6, S.268.

6. vgl. Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, Dritter Band, ed. G. Mayer, Stuttgart-Berlin 1922, S.14

4. Revolution und Proletariat

Die Revolution ist eine offene Kraftprobe zwischen den sozialen Kräften im Kampf um die Macht.

Der Staat ist kein Selbstzweck. Er ist lediglich eine arbeitende Maschine in den Händen der herrschenden sozialen Kraft. Wie jede Maschine hat er seinen Antriebs-, Transmissions- und Ausführungsmechanismus. Die Antriebskraft ist das Klasseninteresse, dessen Mechanismus aus Agitation, Presse, Propaganda der Kirche und Schule, Partei, Straßenkundgebung, Petition und Aufstand besteht. Der Transmissionsmechanismus ist die legislative Organisation des Interesses von Kasten, Dynastien, Ständen oder Klassen unter dem Schein eines göttlichen (Absolutismus) oder nationalen Willens (Parlamentarismus). Der ausführende Mechanismus schließlich ist die Verwaltung mit Polizei, Gericht, Gefängnis und Armee.

Der Staat ist kein Selbstzweck. Sondern er ist das größte Mittel der Organisation, Desorganisation und Reorganisation sozialer Beziehungen. Je nachdem, in wessen Händen er sich befindet, kann er der Hebel zu einer tiefgreifenden Revolution oder das Werkzeug organisierter Stagnation sein.

Jede politische Partei, die diesen Namen verdient, arbeitet auf die Eroberung der Regierungsgewalt hin, um damit den Staat in den Dienst der Klasse zu stellen, deren Interesse sie vertritt. Die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats strebt natürlich die politische Herrschaft der Arbeiterklasse an.

Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft ... Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten „ökonomischen“ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.

In der amerikanischen Zeitung The Tribune schrieb Marx, die Ergebnisse der Revolution und Konterrevolution von 48-49 zusammenfassend:

Die Arbeiterklasse Deutschlands ist in ihrer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung ebenso weit hinter der Englands und Frankreichs zurück wie die deutsche Bourgeoisie hinter der Bourgeoisie jener Länder. Wie der Herr; so der Knecht. Die Entwicklung der Existenzbedingungen für ein zahlreiches, starkes, konzentriertes und intelligentes Proletariat geht Hand in Hand mit der Entwicklung der Existenzbedingungen für eine zahlreiche, wohlhabende, konzentrierte und mächtige Bourgeoisie. Die Arbeiterbewegung selbst ist niemals unabhängig, sie trägt niemals ausschließlich proletarischen Charakter, solange nicht alle die verschiedenen Teile der Bourgeoisie, namentlich ihr fortschrittlichster Teil, die großen Fabrikherren, die politische Macht erobert und den Staat ihren Bedürfnissen entsprechend umgestaltet haben. Dann ist der Augenblick gekommen, wo der unvermeidliche Konflikt zwischen Fabrikherren und Lohnarbeitern in drohende Nähe rückt und nicht länger hinausgeschoben werden kann. [A]

Dieses Zitat ist dem Leser wahrscheinlich bekannt, denn es ist in letzter Zeit von den Text-Marxisten häufig mißbraucht worden. Sie haben es als ein unwiderlegbares Argument gegen die Idee der Arbeiterregierung in Rußland herausgestellt, „Wie der Herr, so der Knecht.“ Wenn die russische kapitalistische Bourgeoisie nicht stark genug ist, die Staatsgewalt zu übernehmen, so könne um so weniger von einer Arbeiterdemokratie, d.h. der politischen Herrschaft des Proletariats, die Rede sein.

Der Marxismus ist vor allem eine Methode der Analyse – nicht der Analyse von Texten, sondern der Analyse sozialer Beziehungen. Trifft es in Rußland zu, daß die Schwäche des kapitalistischen Liberalismus unbedingt die Schwäche der Arbeiterbewegung bedeutet? Trifft es in Rußland zu, daß eine selbständige proletarische Bewegung nicht eher möglich ist, als bis die Bourgeoisie die Staatsgewalt erobert hat? Es genügt, diese Fragen zu stellen, um zu erkennen, welch hoffnungsloser Formalismus des Denkens hinter dem Versuch steckt, aus einer historisch-relativen Bemerkung von Marx ein überzeitliches Theorem zu machen.

Die Entwicklung der Fabrikindustrie in Rußland trug zwar in den Perioden des industriellen Aufschwungs einen „amerikanischen“ Charakter, aber die tatsächlichen Ausmaße unserer kapitalistischen Industrie erscheinen zwergenhaft im Vergleich zur Industrie der amerikanischen Staaten. 5 Millionen Menschen – 16,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung – sind in der verarbeitenden Industrie Rußlands beschäftigt; für die Vereinigten Staaten liegen die entsprechenden Zahlen bei 6 Millionen – 22,2 Prozent. Diese Zahlen sagen noch vergleichsweise wenig; sie geben jedoch ein klareres Bild, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Bevölkerung Rußlands fast doppelt so groß ist wie die der Staaten. Um aber eine Vorstellung von den wirklichen Größenverhältnissen der Industrie dieser beiden Länder zu bekommen, muß man darauf hinweisen, daß im Jahre 1900 die amerikanischen Werke, Fabriken und großen Handwerksbetriebe Waren im Wert von 25 Mrd. Rubel verkauften, während Rußland zur selben Zeit in seinen Fabriken und Betrieben Waren im Wert von weniger als 2,5 Mrd. Rubel produzierte. [B]

Zweifellos hängen die zahlenmäßige Größe des Industrieproletariats, seine Konzentration, sein kulturelles Niveau und seine politische Bedeutung von der Entwicklungsstufe der kapitalistischen Industrie ab. Aber diese Abhängigkeit ist keine unmittelbare. Zwischen die Produktivkräfte eines Landes und die politischen Kräfte seiner Klassen schieben sich in jedem Moment verschiedene soziale und politische Faktoren nationalen und internationalen Charakters, und sie können den politischen Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse in eine andere Richtung lenken und sogar völlig verändern. Obwohl die Produktivkräfte der Industrie in den Vereinigten Staaten zehnmal so groß sind wie bei uns, ist die politische Rolle des russischen Proletariats, sein Einfluß auf die Politik seines Landes und die Möglichkeit, daß es in naher Zukunft Einfluß auf die Weltpolitik nehmen wird, unvergleichlich viel größer als die Rolle und die Bedeutung des amerikanischen Proletariats.

Kautsky weist in seiner kürzlich erschienenen Arbeit über das amerikanische Proletariat darauf hin, daß es keine direkte und unmittelbare Entsprechung zwischen der politischen Kraft des Proletariats und der Bourgeoisie einerseits und dem Stand der kapitalistischen Entwicklung andererseits gibt. „Es sind namentlich zwei Staaten“, sagt er, „die als Extreme einander gegenüberstehen, von denen jeder ein anderes der beiden Elemente dieser kapitalistischen Produktionsweise unverhältnismäßig stark, d.h. mehr, als der Höhe seiner Entwicklung entspricht. zur Geltung kommen sieht: Amerika die Klasse der Kapitalisten, Rußland die der Proletarier. In Amerika kann man mehr als anderswo von der Diktatur des Kapitals reden. Dagegen hat das kämpfende Proletariat nirgends eine solche Bedeutung erlangt wie in Rußland, und diese Bedeutung wird und muß sich noch steigern, denn dieses Land hat eben erst begonnen, in die modernen Klassenkämpfe einzutreten und ihnen einigermaßen Spielraum zu gewähren.“ Nach dem Hinweis, daß Deutschland in einem gewissen Maße seine Zukunft in Rußland studieren kann, fährt Kautsky fort: „Es ist allerdings eine eigentümliche Erscheinung, daß gerade das Proletariat Rußlands uns unsere Zukunft zeigen sollte, soweit sie nicht in der Organisation des Kapitals, sondern in der Empörung der Arbeiterklasse ihren Ausdruck findet: ist doch Rußland unter allen großen Staaten der kapitalistischen Welt der rückständigste. Es scheint das in Widerspruch zu der materialistischen Geschichtsauffassung zu stehen, wonach die ökonomische Entwicklung die Grundlage der politischen bildet. Aber es steht bloß im Widerspruch zu jener Art materialistischer Geschichtsauffassung, die unsere Gegner und Kritiker vorführen, die unter ihr eine fertige Schablone verstehen, nicht eine Methode der Forschung.“ [C] Diese Zeilen muß man besonders der Aufmerksamkeit jener einheimischen Marxisten empfehlen, die die selbständige Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Auslegung von Texten ersetzen, die sie für alle Fälle des Lebens ausgewählt haben. Niemand kompromittiert den Marxismus so sehr wie diese Titularmarxisten!

Also, Kautsky zufolge ist Rußland auf ökonomischem Gebiet durch ein relativ niedriges Niveau der kapitalistischen Entwicklung charakterisiert, in der politischen Sphäre durch die Bedeutungslosigkeit der kapitalistischen Bourgeoisie und die Macht des revolutionären Proletariats. Dies führt dazu, daß der „Kampf für die Interessen des ganzen Rußlands der einzigen jetzt vorhandenen starken Klasse, dem Industrieproletariat, zufällt.

Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann. [D]

Gibt uns dies alles nicht das Recht zu dem Schluß, daß der russische „Knecht“ eher an der Macht sein kann als sein „Herr“?

Es gibt zwei Arten von politischem Optimismus. Man kann seine Kräfte und die Vorteile einer revolutionären Situation überschätzen und sich Aufgaben stellen, deren Lösung das gegebene Kräfteverhältnis nicht gestattet. Man kann aber auch umgekehrt seine revolutionären Aufgaben in optimistischer Weise durch eine Grenze beschränken, über die uns die Logik unserer Lage unvermeidlich hinaustreiben wird.

Man kann den Rahmen aller Fragen der Revolution durch die Behauptung einschränken, unsere Revolution sei in ihren objektiven Zielen und damit in ihren zwangsläufigen Ergebnissen eine bürgerliche Revolution, und man kann dabei die Augen vor der Tatsache verschließen, daß die Hauptfigur in dieser bürgerlichen Revolution das Proletariat ist, das durch den gesamten Verlauf der Revolution an die Macht getragen wird.

Man kann sich damit trösten, daß im Rahmen einer bürgerlichen Revolution die politische Herrschaft des Proletariats nur eine vorübergehende Episode sein wird, und dabei vergessen, daß das Proletariat, wenn es einmal die Macht in die Hand bekommen hat, sie nicht ohne verzweifelten Widerstand wieder abgeben wird, sie solange nicht losläßt, bis sie ihm von bewaffneter Hand entrissen wird.

Man kann sich damit trösten, daß die sozialen Bedingungen Rußlands noch nicht reif für eine sozialistische Wirtschaftsordnung sind, ohne dabei zu bedenken, daß das an die Macht gelangte Proletariat durch die ganze Logik seiner Position unausweichlich dazu getrieben wird, die Wirtschaft in staatliche Regie zu nehmen.

Die allgemeine soziologische Bestimmung einer bürgerlichen Revolution löst nicht im geringsten die politisch-taktischen Aufgaben, Widersprüche und Schwierigkeiten, die die Mechanik einer konkreten bürgerlichen Revolution aufwirft.

Im Rahmen der bürgerlichen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts, deren objektive Aufgabe es war, die Herrschaft des Kapitals durchzusetzen, erwies sich die Diktatur der Sansculotten als möglich. Diese Diktatur war nicht nur eine vorübergehende Episode; sie drückte dem ganzen nachfolgenden Jahrhundert ihren Stempel auf- und dies ungeachtet der Tatsache, daß sie sehr schnell an dem beschränkten Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zerbrach.

In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende „Episode“ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?

Müssen wir nicht das Wort des „realistischen“ Politikers Vollmar über die Kommunarden von 1871 auf uns beziehen, daß sie, anstatt die Macht zu übernehmen, sich besser schlafen gelegt hätten?

Fußnoten von Trotzki

A. Karl Marks, Germanija w 1848-50 gg., izd. Aleksejewoj, 1905, S.8 u. S.9 [vgl. Karl Marx [eigentlich Engels - MIA], Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in K. Marx u. F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1960, Bd.8, S.10f.].

B. D. Mendelejew, K poznaniju Rossii, 1906, S.99.

C. K. Kautskij, Amerikanskij i russkij rabothschij [Der amerikanische und russische Arbeiter], St. Petersburg 1906, S.4 u. S.5 [vgl. K. Kautsky: Der amerikanische Arbeiter, in: Die Neue Zeit, XXIV. Jg., 1. Bd., Stuttgart 1906, S.677].

D. D. Mendelejew, K poznaniju Rossii, 1906, S.10.


6. Das proletarische Regime

Die Macht erringen kann das Proletariat nur, wenn es sich auf eine nationale Erhebung und eine allgemeine Begeisterung stützt. Das Proletariat wird in die Regierung als der revolutionäre Vertreter der Nation eintreten, als der anerkannte Volksführer im Kampf gegen den Absolutismus und die Barbarei der Leibeigenschaft. An die Macht gelangt, wird das Proletariat jedoch eine neue Epoche einleiten – eine Epoche der revolutionären Gesetzgebung. der entschiedenen Politik –, und im Zusammenhang damit kann es in keiner Weise seiner weiteren Anerkennung als Repräsentant des Willens der Nation sicher sein. Die ersten Maßnahmen des Proletariats, die Säuberung der Augiasställe des alten Regimes und die Vertreibung ihrer Bewohner, werden die tatkräftige Unterstützung der ganzen Nation finden, ungeachtet dessen, was die liberalen Eunuchen über die Hartnäckigkeit einiger Vorurteile bei den Volksmassen sagen mögen.

Diese politische Säuberung wird ergänzt werden durch eine demokratische Reorganisation aller Verhältnisse in Gesellschaft und Staat. Die Arbeiterregierung wird unter dem Einfluß des unmittelbaren Drucks und der direkten Forderungen entschlossen in alle gesellschaftlichen Verhältnisse und Phänomene eingreifen müssen ...

Ihr erstes Geschäft wird darin zu bestehen haben, alle diejenigen aus Armee und Verwaltung zu verjagen, die sich mit dem Blut des Volkes befleckt haben, alle die Regimenter zu entlassen oder aufzulösen, die sich am meisten mit Verbrechen gegen das Volk belastet haben; diese Arbeit wird schon in den ersten Tagen der Revolution geleistet werden müssen, d.h. noch lange, bevor es möglich wird, das System einer gewählten und verantwortlichen Beamtenschaft einzuführen und zur Organisierung einer Volksmiliz zu schreiten. Aber das allein genügt nicht. Die Arbeiterdemokratie wird sich sofort mit der Frage der Länge der Arbeitszeit, mit der Agrarfrage und dem Problem der Arbeitslosigkeit konfrontiert sehen ...

Eines ist klar. Jeder neue Tag wird die Politik des sich an der Macht befindenden Proletariats vertiefen und ihren Klassencharakter immer deutlicher werden lassen. Aber zugleich wird auch die revolutionäre Verbindung zwischen dem Proletariat und der Nation unterbrochen werden und die klassenmäßige Ausgliederung der Bauernschaft in einer politischen Form hervortreten; der Antagonismus zwischen ihren Bestandteilen wird in dem Maße wachsen, wie die Politik der Arbeiterregierung sich ihrer Bestimmung bewußt wird und sich aus einer allgemein-demokratischen zu einer Klassenpolitik verwandelt.

Wenn auch das Fehlen fester bürgerlich-individualistischer Traditionen und antiproletarischer Vorurteile bei Bauernschaft und Intelligenz dem Proletariat helfen wird, sich an der Macht zu halten, muß man andererseits im Sinn behalten, daß dies Fehlen von Vorurteilen nicht auf einem politischen Bewußtsein, sondern auf politischem Barbarentum, auf sozialer Unstrukturiertheit, Primitivität und Formlosigkeit beruht. Und alle diese Eigenschaften und Charaktermerkmale können keine irgend verläßliche Grundlage für eine konsequente, aktive Politik des Proletariats abgeben.

Die Abschaffung des feudalen Systems der Leibeigenschaft wird die Unterstützung der gesamten Bauernschaft, des dienstpflichtigen Standes, finden. Eine progressive Einkommensteuer wird die Unterstützung der großen Mehrheit der Bauernschaft finden; aber gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutze des Landproletariats werden nicht allein auf keine aktive Zustimmung der Mehrheit, sondern auch auf den aktiven Widerstand einer Minderheit treffen.

Das Proletariat wird sich gezwungen sehen, den Klassenkampf ins Dorf zu tragen und dadurch die Gemeinsamkeit der Interessen mit der gesamten Bauernschaft zerstören, die zweifellos, wenn auch in vergleichsweise engen Grenzen, vorhanden ist. Vom ersten Augenblick seiner Herrschaft an wird das Proletariat seinen Rückhalt in der Gegenüberstellung von Dorfarmen und Dorfreichen, von Landproletariat und landwirtschaftlicher Bourgeoisie suchen müssen. Aber während die Heterogenität der Bauernschaft eine Schwierigkeit darstellt und die Basis einer proletarischen Politik einengt, wird umgekehrt die ungenügende Klassendifferenzierung der Bauernschaft es erschweren, einen entwickelten Klassenkampf in die Bauernschaft hineinzutragen, auf den sich das städtische Proletariat stützen könnte. Die Primitivität der Bauernschaft wird sich dem Proletariat von ihrer feindseligen Seite zeigen.

Das Erkalten der Bauernschaft, ihre politische Passivität und besonders der aktive Widerstand ihrer oberen Schichten werden nicht ohne Einfluß auf einen Teil der Intelligenz und auf das städtische Kleinbürgertum bleiben können.

Je bestimmter und entschiedener somit die Politik des Proletariats an der Macht wird, desto schmaler wird seine Basis, desto mehr wird der Boden unter seinen Füßen schwanken. All dies ist außerordentlich wahrscheinlich, ja sogar unvermeidlich ...

Zwei wesentliche Züge der proletarischen Politik werden auf den Widerstand seiner Verbündeten stoßen: der Kollektivismus und der Internationalismus.

Der kleinbürgerliche Charakter und die Primitivität der Bauernschaft, die dörfliche Beschränktheit ihres Gesichtskreises, ihre Abgeschiedenheit von weltpolitischen Zusammenhängen und Abhängigkeiten werden ein schlimmes Hindernis für die Festigung der revolutionären Politik des Proletariats darstellen, das sich an der Macht befindet.

Wenn man sich die Sache so vorstellt, daß die Sozialdemokratie in eine provisorische Regierung eintritt, sie während einer Periode revolutionär-demokratischer Reformen anführt, auch noch ihre radikalsten Maßnahmen verteidigt und sich hierbei auf das Organisierte Proletariat stützt, daß die Sozialdemokratie dann, nachdem das demokratische Programm erfüllt ist, aus dem von ihr gebauten Haus auszieht und den bürgerlichen Parteien den Weg freigibt, selbst in die Opposition geht und damit eine Epoche parlamentarischer Politik eröffnet: sich dies vorzustellen, hieße, die Idee einer Arbeiterregierung kompromittieren. Nicht deshalb, weil es, „prinzipiell“ unzulässig wäre – eine so abstrakte Fragestellung entbehrt jeden Inhalts –, sondern weil es völlig irreal, weil es ein Utopismus übelster Sorte, weil es eine Art von revolutionär-philisterhaftem Utopismus ist.

Und zwar aus folgendem Grunde:

Die Aufteilung unseres Programms in ein Minimal und Maximalprogramm ist von großer und prinzipieller Bedeutung unter der Bedingung daß sich die Macht in den Händen der Bourgeoisie befindet. Eben diese Tatsache, daß der Bourgeoisie die Macht gehört, verbannt aus unserem Minimalprogramm alle Forderungen, die mit dem Privateigentum an den Mitteln der Produktion unvereinbar sind. Eben diese Forderungen machen den Inhalt der sozialistischen Revolution aus, und ihre Voraussetzung ist die Diktatur des Proletariats.

Aber befindet sich einmal die Macht in den Händen der revolutionären Regierung mit einer sozialistischen Mehrheit, so verliert der Unterschied zwischen Minimal- und Maximalprogramm sowohl prinzipiell wie unmittelbar – praktisch jede Bedeutung. Eine proletarische Regierung wird unter keinen Umständen an diesem engen Rahmen festhalten können. Nehmen wir die Forderung nach dem Achtstundentag. Bekanntlich widerspricht sie nicht im mindesten den kapitalistischen Verhältnissen und geht deshalb in das Minimalprogramm der Sozialdemokratie ein. Aber stellen wir uns das Bild seiner realen Durchführung während einer revolutionären Periode vor, in der alle sozialen Leidenschaften angespannt sind. Das neue Gesetz würde zweifellos auf den organisierten und hartnäckigen Widerstand der Kapitalisten stoßen, etwa in der Form der Aussperrung und der Schließung von Fabriken und Betrieben. Hunderttausende von Arbeitern würden auf die Straße gesetzt werden. Was hätte die Regierung zu tun? Eine bürgerliche Regierung. wie radikal sie auch immer sein mag, würde es niemals so weit kommen lassen, denn vor geschlossenen Fabriken und Betrieben wäre sie machtlos. Sie hätte Zugeständnisse zu machen, der Achtstundentag würde nicht eingeführt, die Empörung des Proletariats würde unterdrückt ...

Unter der politischen Herrschaft des Proletariats muß die Einführung des Achtstundentages zu völlig anderen Konsequenzen führen. Die Schließung von Fabriken und Betrieben durch die Kapitalisten kann selbstverständlich für eine Regierung kein Grund für die Verlängerung des Arbeitstages sein, die sich auf das Proletariat und nicht auf das Kapital – wie der Liberalismus – stützen und die nicht die Rolle eines „unparteiischen“ Vermittlers der bürgerlichen Demokratie spielen will. Für eine Arbeiterregierung gibt es nur einen Ausweg: die Enteignung der geschlossenen Fabriken und Betriebe und die Organisation ihrer Produktion auf der Grundlage gesellschaftlicher Rechnungsführung.

Natürlich kann man folgendermaßen argumentieren. Angenommen, die Arbeiterregierung dekretiert ihrem Programm getreu den Achtstundentag; wenn das Kapital Widerstand leistet, der nicht mit den Mitten eines demokratischen Programms, das ja den Schutz des Privateigentums voraussetzt, überwunden werden kann, dann tritt die Sozialdemokratie zurück und appelliert an das Proletariat. Eine derartige Lösung wäre eine Lösung vom Standpunkt der Gruppe des Regierungspersonals aus – aber keine Lösung vom Standpunkt des Proletariats oder vom Standpunkt der Entwicklung der Revolution. Denn nach dem Rücktritt der Sozialdemokratie wird die Situation die gleiche sein wie vorher, als sie gezwungen wurde, eben die Macht zu übernehmen. Angesichts des organisierten Widerstandes des Kapitals ist die Flucht ein noch größerer Verrat an der Revolution als die Weigerung, die Macht zu übernehmen – denn es ist wirklich besser, nicht in die Regierung einzutreten, als es zu tun, bloß um seine Schwäche zu beweisen und sich dann zurückzuziehen.

Noch ein Beispiel. Befindet sich das Proletariat an der Macht, so kann es nicht umhin, die energischsten Maßnahmen zur Lösung des Arbeitslosenproblems zu ergreifen, denn es versteht sich, daß die Vertreter der Arbeiter, die in die Regierung eintreten, die Forderungen der Arbeitslosen nicht mit dem Hinweis auf den bürgerlichen Charakter der Revolution beantworten können.

Aber wenn der Staat auch nur die Existenzsicherung der Arbeitslosen übernimmt (es ist hier unwichtig, in welcher Weise), so bedeutet dies eine sofortige gewaltige Verschiebung der ökonomischen Macht zugunsten des Proletariats. Die Kapitalisten, deren Druck auf das Proletariat immer auf der Tatsache beruhte, daß eine Reservearmee vorhanden war, fühlen sich ökonomisch machtlos, während die revolutionäre Regierung sie gleichzeitig zu politischer Ohnmacht verurteilt. Wenn er die Unterstützung der Arbeitslosen übernimmt, nimmt der Staat damit gleichzeitig die Existenzsicherung der Streikenden auf sich. Wenn er dies nicht tut, untergräbt er sofort und unwiderruflich seine eigene Existenzgrundlage.

Den Fabrikanten bleibt dann nichts anderes übrig, als zur Aussperrung zu schreiten, d.h. zur Schließung der Fabriken. Es ist ganz klar, daß die Fabrikanten die Einstellung der Produktion sehr viel länger durchhalten können als die Arbeiter, und deshalb gibt es für die Arbeiterregierung auf eine Massenaussperrung nur eine einzige Antwort: die Enteignung der Fabriken und zumindest bei den größten von ihnen – die Organisierung der Produktion auf staatlicher oder kommunaler Grundlage.

Analoge Probleme entstehen im Bereich der Landwirtschaft schon allein durch das Faktum der Bodenenteignung. Man kann in keiner Weise voraussetzen, daß eine proletarische Regierung die privaten Güter, auf denen die Großproduktion eingeführt ist, nach ihrer Enteignung in einzelne Parzellen aufteilen und zur Nutzung an die Kleinproduzenten verkaufen wird; hier besteht der einzige Weg in der Organisation genossenschaftlicher Produktion unter kommunaler Kontrolle oder direkt unter staatlicher Rechnungsführung. Das aber ist der Weg zum Sozialismus.

All dies zeigt ganz deutlich, daß die Sozialdemokratie nicht in eine Revolutionsregierung eintreten kann, wenn sie dem Proletariat vorher zugesichert hat, nicht vom Minimalprogramm abzugehen, und zugleich der Bourgeoisie versprochen hat, nicht über das Minimalprogramm hinauszugehen. Eine derartig zweiseitige Verpflichtung wäre völlig unerfüllbar. Wenn die Vertreter des Proletariats nicht als machtlose Geiseln, sondern als führende Kraft in die Regierung eintreten, so zerstören sie damit die Grenze zwischen Minimal- und Maximalprogramm, d.h. sie setzen den Kollektivismus auf die Tagesordnung. An welchem Punkt das Proletariat in dieser Richtung aufgehalten wird, das hängt von dem Kräfteverhältnis und am allerwenigsten von den ursprünglichen Absichten der Partei des Proletariats ab.

Deshalb kann man nicht von irgendeiner besonderen Form der proletarischen Diktatur im Rahmen der bürgerlichen Revolution reden oder gar von der demokratischen Diktatur des Proletariats (oder des Proletariats und der Bauernschaft). Die Arbeiterklasse kann den demokratischen Charakter ihrer Diktatur nicht garantieren, ohne die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten. Irgendwelche Illusionen in diesem Punkt wären verhängnisvoll. Sie würden die Sozialdemokratie von Anfang an kompromittieren.

Wenn die Partei des Proletariats einmal die Macht übernimmt, wird sie bis zum Ende um sie kämpfen. Wenn ein Mittel dieses Kampfes um die Erhaltung und Festigung der Macht die Agitation und Organisation besonders auf dem Lande sein wird, so ist ein anderes Mittel die kollektivistische Politik. Der Kollektivismus wird nicht nur notwendig aus der Stellung der Partei an der Macht folgen, sondern auch ein Mittel sein, diese Position mit der Unterstützung des Proletariats zu halten.

Als in der sozialistischen Presse die Idee der ununterbrochenen Revolution formuliert wurde, die die Liquidierung des Absolutismus und des zivilen Leibeigenensystems mit der sozialistischen Umwälzung durch eine Reihe sich verschärfender sozialer Konflikte verknüpfte, durch die Erhebungen neuer Schichten aus der Masse, durch die unaufhörlichen Angriffe des Proletariats auf die ökonomischen und politischen Privilegien der herrschenden Klassen, – da erhob unsere „progressive“ Presse einstimmig ein Geheul der Entrüstung. Oh, sie hat viel ausgestanden, aber das kann sie nicht hinnehmen. Die Revolution, schrie sie, sei kein Weg, den man „gesetzlich dekretieren“ könne. Die Anwendung von außergewöhnlichen Mitteln sei nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig. Das Ziel der Befreiungsbewegung sei es nicht, die Revolution zu verewigen, sondern sie so schnell wie möglich in die Bahnen des Rechts zu lenken usw. usf.

Die radikaleren Vertreter der gleichen Art von Demokratie riskieren es nicht, sich vom Standpunkt der schon gesicherten konstitutionellen „Errungenschaften“ gegen die Revolution auszusprechen: auch für sie stellt dieser parlamentarische Kretinismus, der dem Aufstieg des Parlamentarismus voranging, keine wirksame Waffe im Kampf gegen die Revolution des Proletariats dar. Sie wählen einen anderen Weg: sie stellen sich nicht auf den Boden des Rechts, sondern auf den Boden von scheinbaren Tatsachen – auf den Boden historischer „Möglichkeiten“, auf den Boden des politischen „Realismus“ und schließlich ... schließlich sogar auf den Boden des „Marxismus“. Warum auch nicht? Schon Antonio, der gottesfürchtige Bürger Venedigs, sagte sehr treffend:

Merk dir, der Teufel kann zu seinem Zweck
die Heil’ge Schrift zitieren. [8]

Sie halten nicht nur die Idee einer Arbeiterregierung in Rußland für phantastisch, sondern sie verwerfen sogar die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Europa in der nächsten historischen Epoche. Die notwendigen „Voraussetzungen“ sind noch nicht vorhanden. Stimmt das? Es handelt sich natürlich nicht darum, den Zeitpunkt der sozialistischen Revolution festzusetzen, sondern darum, ihre realen historischen Perspektiven einzuschätzen.

Anmerkung

8. Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 1. Akt, 3. Szene.


7. Die Voraussetzungen des Sozialismus

Der Marxismus hat ans dem Sozialismus eine Wissenschaft gemacht. Das hindert manche „Marxisten“ nicht, aus dem Marxismus eine Utopie zu machen.

Roschkow stellt in seiner Argumentation gegen das Programm der Sozialisierung und Vergenossenschaftlichung die „notwendigen Voraussetzungen des künftigen Gesellschaftssystems, die von Marx unerschütterlich festgelegt sind“, wie folgt dar: „Ist etwa jetzt“, sagt Roschkow, „seine objektive materielle Voraussetzung bereits gegeben, die in einem Entwicklungsstand der Technik bestehen muß, der das Motiv des persönlichen Gewinns, das Vorhandensein [?] von persönlicher Tatkraft, von Unternehmungsgeist und Risiko auf ein Minimum reduziert und damit die gesellschaftliche Produktion auf den vordersten Plan treten läßt; ein solcher Stand der Technik ist aufs engste verknüpft mit der fast uneingeschränkten [!] Vorherrschaft der Großindustrie in allen [!] Wirtschaftszweigen, aber ist ein solches Resultat etwa erreicht? – Es fehlt auch die psychologische, subjektive Voraussetzung, das Wachstum des Klassenbewußtseins des Proletariats, das schließlich den geistigen Zusammenschluß der überwältigenden Mehrheit der Volksmassen mit sich bringt“ – „Wir kennen“, sagt Roschkow weiter, „schon jetzt Beispiele von Produktionsassoziationen wie z.B. die bekannten französischen Glaswerke in Albi und verschiedene handwirtschaftliche Produktionsassoziationen ebenfalls in Frankreich ... Und hier zeigen die erwähnten französischen Erfahrungen deutlicher als alles andere, daß selbst in einem so fortgeschrittenen Lande wie Frankreich die Wirtschaftsbedingungen nicht weit genug entwickelt sind, um eine Vorherrschaft der Kooperation zu ermöglichen: diese Unternehmen sind nur von mittlerer Größe, ihr technisches Niveau ist nicht höher als das gewöhnlicher kapitalistischer Unternehmen, sie marschieren nicht an der Spitze der industriellen Entwicklung, führen sie nicht an, sondern erreichen ein bescheidenes durchschnittliches Niveau. Erst wenn die Erfahrungen einzelner Produktionsassoziationen deren führende Rolle im Wirtschaftsleben zeigen, erst dann sind wir in der Nähe eines neuen Gesellschaftssystems, erst dann können wir sicher sein, daß die notwendigen Voraussetzungen für seine Verwirklichung vorliegen.“ [A]

Wenn wir auch die guten Absichten des Gen. Roschkow respektieren, so müssen wir doch voller Betrübnis bekennen, daß wir selbst in der bürgerlichen Literatur selten einer größeren Verwirrung über die sogenannten Voraussetzungen des Sozialismus begegnet sind. Es lohnt sich, auf diese Verwirrung einzugehen, wenn auch nicht Roschkows wegen, so doch um des Problems willen.

Roschkow erklärt, es gebe noch nicht den „Entwicklungsstand der Technik, der das Motiv des persönlichen Gewinns, das Vorhandensein [?] von persönlicher Tatkraft, von Unternehmungsgeist und Risiko auf ein Minimum reduziert und damit die gesellschaftliche Produktion auf den vordersten Plan treten läßt“. Es ist ziemlich schwierig. den Sinn dieses Abschnitts zu verstehen. Offenbar will Gen. Roschkow sagen, daß erstens die moderne Technik die lebendige menschliche Arbeit noch nicht in ausreichendem Maße aus der Industrie verdrängt habe; daß zweitens die Verdrängung die „fast“ uneingeschränkte Vorherrschaft von Großbetrieben in allen Wirtschaftszweigen voraussetze und damit die „fast“ uneingeschränkte Proletarisierung der gesamten Bevölkerung eines Landes.

Das sind die beiden Voraussetzungen, die angeblich „von Marx unerschütterlich festgelegt“ worden sind.

Versuchen wir, uns das Bild der kapitalistischen Verhältnisse vorzustellen, das der Sozialismus nach der Methode Roschkows vorfinden wird. „Die fast uneingeschränkte Vorherrschaft der Großindustrie in allen Wirtschaftszweigen“ bedeutet unter den Bedingungen des Kapitalismus, wie gesagt, die Proletarisierung aller kleinen und mittleren Produzenten in Landwirtschaft und Industrie, d.h. die Verwandlung der gesamten Bevölkerung in Proletariat. Aber die uneingeschränkte Herrschaft der Maschinentechnik in diesen Großbetrieben reduziert den Bedarf an lebendiger Arbeit auf ein Minimum und verwandelt somit die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Landes – man hat an 90 Prozent zu denken – in eine Reservearmee, die auf Staatskosten in Arbeitshäusern lebt. Wir nahmen 90 Prozent an, aber nichts hindert uns, logisch zu sein und uns einen Zustand vorzustellen, in dem die gesamte Produktion aus einem einzigen Automaten besteht, der einem einzigen Syndikat gehört und als lebendige Arbeitskraft lediglich einen einzigen dressierten Orang-Utan braucht. Bekanntlich ist das die brillant-konsequente Theorie Tugan-Baranowskis. [9] Unter solchen Bedingungen rückt die „gesellschaftliche Produktion“ nicht nur „auf den vordersten Plan“, sondern sie beherrscht das ganze Feld; mehr noch – zugleich wird auch ganz natürlich der gesellschaftliche Konsum organisiert, denn es ist ganz offensichtlich, daß die ganze Nation mit Ausnahme der 10 Prozent des Trusts auf öffentliche Kosten in Arbeitshäusern leben wird. So lächelt hinter dem Rücken des Gen. Roschkow das vertraute Gesicht des Herrn Tugan-Baranowski hervor. – Hernach bricht der Sozialismus an: die Bevölkerung taucht aus den Arbeitshäusern auf und expropriiert die Gruppe der Expropriateure. Weder Revolution noch Diktatur des Proletariats sind hierbei natürlich vonnöten.

Das zweite ökonomische Merkmal der Reife eines Landes für den Sozialismus ist nach Roschkow die Möglichkeit der Vorherrschaft kooperativer Produktion. Nicht einmal in Frankreich leisten die kooperativen Glaswerke von Albi mehr als die anderen kapitalistischen Unternehmen. Sozialistische Produktion wird nur dann möglich, wenn Kooperative als führende Betriebe an der Spitze der industriellen Entwicklung stehen.

All diese Erwägungen sind von Anfang bis Ende verdreht. Die Kooperative können nicht an die Spitze der industriellen Entwicklung gelangen, nicht weil die wirtschaftliche Entwicklung noch nicht weit genug, sondern weil sie zu weit fortgeschritten ist. Zweifellos bereitet die ökonomische Entwicklung den Boden für die kooperative Produktion, aber für welche? Für die kapitalistische Kooperation auf der Basis der Lohnarbeit – jede Fabrik zeigt uns eine derartige kapitalistische Kooperation. Mit der Entwicklung der Technik nimmt auch die Bedeutung dieser Kooperation zu. – Aber wie kann die Entwicklung des Kapitalismus die genossenschaftlichen Betriebe „an die Spitze der Industrie“ lassen? Worauf gründet Gen. Roschkow seine Hoffnungen, daß die Kooperativen die Syndikate und Trusts verdrängen und ihren Platz an der Spitze der industriellen Entwicklung einnehmen können? Es ist klar, daß in diesem Falle die Kooperativen ganz automatisch alle kapitalistischen Unternehmen zu enteignen hätten, wonach sie nur noch den Arbeitstag soweit verkürzen müßten, daß alle Bürger Arbeit hätten, und den Produktionsumfang in den verschiedenen Branchen regulieren müßten, um Krisen zu vermeiden. Auf diese Weise wäre der Sozialismus in seinen Grundzügen errichtet. Es ist wiederum klar, daß es nicht im geringsten einer Revolution oder der Diktatur des Proletariats bedarf.

Die dritte Voraussetzung ist eine psychologische: notwendig sei ein „Wachstum des Klassenbewußtseins des Proletariats, das schließlich den geistigen Zusammenhang der überwältigenden Mehrheit der Volksmassen mit sich bringt“. Da man unter geistigem Zusammenschluß in diesem Falle offenbar die bewußte sozialistische Solidarität zu verstehen hat, heißt das, daß Gen. Roschkow den Zusammenschluß der „überwältigenden Mehrheit der Volksmassen“ in den Reihen der Sozialdemokratie für die psychologische Voraussetzung des Sozialismus hält. Roschkow nimmt also offensichtlich an, daß der Kapitalismus – der die kleinen Produzenten in die Reihen des Proletariats und die Masse der Proletarier in die Reihen der industriellen Reservearmee treibt – für die Sozialdemokratie die Möglichkeit schaffen wird, die überwältigende Mehrheit (90 Prozent?) der Volksmassen geistig zusammenzuschließen und aufzuklären.

Dies zu verwirklichen, ist in der Welt der kapitalistischen Barbarei ebensowenig möglich wie die Herrschaft der Kooperativen im Reich kapitalistischer Konkurrenz. Aber wenn es zu verwirklichen wäre, dann würde natürlich die im Bewußtsein und Geist vereinte „überwältigende Mehrheit“ der Nation ohne Schwierigkeit die wenigen Kapitalmagnaten absetzen und ohne Revolution und Diktatur eine sozialistische Wirtschaftsordnung organisieren.

Hier taucht jedoch unwillkürlich folgende Frage auf. Roschkow hält sich für einen Schüler von Marx. Marx, der die „unerschütterlichen Voraussetzungen des Sozialismus“ in seinem Kommunistischen Manifest dargelegt hat, betrachtete jedoch die Revolution von 1848 als den unmittelbaren Prolog der sozialistischen Revolution. Es bedarf nach 60 Jahren natürlich keines allzu großen Scharfsinns, zu erkennen, daß Marx sich geirrt hat, denn die kapitalistische Welt existiert, wie wir wissen, noch immer. Aber wie konnte Marx sich so irren? Hat er denn nicht gesehen, daß die Großbetriebe noch nicht alle Industriezweige beherrschten? Daß die Produktionsgenossenschaften noch nicht an der Spitze der Großunternehmen standen? Daß die überwältigende Mehrheit des Volkes noch nicht auf dem Boden der Ideen des Kommunistischen Manifestes vereinigt war? Wenn wir sehen, daß all dies selbst heute noch da ist, wie konnte es Marx dann übersehen, daß im Jahre 1848 nichts dergleichen vorhanden war? Wahrhaftig, der Marx von 1848 war ein utopisches Wickelkind im Vergleich zu vielen heutigen unfehlbaren Automaten des Marxismus! ...

Wir sehen also, daß Gen. Roschkow, obwohl er keineswegs zu den Kritikern von Marx gehört, dennoch die proletarische Revolution als die notwendige Voraussetzung des Sozialismus gänzlich abschafft. Da Roschkow nur allzu konsequent die Ansichten zum Ausdruck gebracht hat, die eine beträchtliche Zahl von Marxisten in beiden Richtungen unserer Partei teilen, ist es notwendig, sieh mit den prinzipiellen, methodischen Grundlagen seiner Irrtümer zu befassen.

Nebenbei muß man bemerken, daß die Gedankengänge Roschkows über das Schicksal der Kooperativen sein persönliches Eigentum sind. Wir selber sind nirgendwo einem Sozialisten begegnet der an ein so einfaches, unaufhaltsames Fortschreiten der Konzentration der Produktion und der Proletarisierung der Volksmassen und zugleich an die führende Rolle von Produktionsgenossenschaften vor der proletarischen Revolution geglaubt hätte. Diese beiden Voraussetzungen zu verneinen, ist in der ökonomischen Entwicklung weitaus schwieriger als bloß im eigenen Kopf, obwohl uns auch letzteres immer nur schwer möglich schien.

Aber wir werden zwei weitere „Voraussetzungen“ behandeln, die typischere Vorurteile darstellen.

Zweifellos sind die Entwicklung der Technik, die Konzentration der Produktion und der Anstieg des Bewußtseins bei den Massen Voraussetzungen des Sozialismus. Aber alle diese Prozesse gehen gleichzeitig vor sich; sie stoßen und treiben sich nicht nur gegenseitig an, sondern verzögern und beschränken einander auch. Jeder dieser Prozesse, der auf einem höheren Niveau stattfindet, verlangt eine bestimmte Entwicklung eines anderen Prozesses auf einer niedrigeren Ebene. Aber die vollständige Entwicklung eines jeden von ihnen ist unmöglich, wenn sich die übrigen vollständig entwickelt haben.

Die Entwicklung der Technik hat zweifellos ihren idealen Grenzwert in einem einzigen automatischen Mechanismus, der Rohstoffe aus dem Schoß der Natur holt und die fertigen Verbrauchsgüter den Menschen vor die Füße wirft. Wenn die Existenz des Kapitalismus nicht beschränkt wäre durch die Klassenverhältnisse und den sich hieraus ergebenden revolutionären Kampf, so müßten wir annehmen, daß die Technik – wenn sie sich dem Ideal eines einzigen automatischen Mechanismus im Rahmen des kapitalistischen Systems angenähert hat – damit auch den Kapitalismus automatisch aufhebt.

Die sich aus dem Gesetz der Konkurrenz ergebenden Konzentration der Produktion hat die innere Tendenz, die gesamte Bevölkerung zu proletarisieren. Isolierten wir diese Tendenz, so hätten wir Grund zu der Annahme, daß der Kapitalismus sein Werk zu Ende führte, wenn nicht der Prozeß der Proletarisierung von einer revolutionären Umwälzung unterbrochen würde, die bei einem bestimmten Verhältnis der Klassenkräfte unvermeidlich ist – lange bevor der Kapitalismus die Mehrheit der Bevölkerung in eine Reservearmee verwandelt hat, die in gefängnisähnlichen Behausungen wohnt.

Weiter. Mit dem Wachstum des Bewußtseins geht es, dank der Erfahrung des Tageskampfes und der bewußten Anstrengungen der sozialistischen Parteien, zweifellos ständig vorwärts. Betrachten wir diesen Prozeß isoliert, so können wir ihn bis zu dem Punkt verfolgen, an dem die überwältigende Mehrheit des Volkes in gewerkschaftlichen und politischen Organisationen erfaßt und durch das Gefühl der Solidarität und die Einheit des Zieles zusammengeschlossen ist. Wenn dieser Prozeß wirklich quantitativ fortschreiten könnte, ohne sich qualitativ zu verändern, könnte der Sozialismus friedlich durch einen einmütigen, bewußten Akt der Bürger des 21. oder 22. Jahrhunderts verwirklicht werden.

Aber wesentlich ist, daß diese Prozesse, die die historischen Voraussetzungen für den Sozialismus darstellen, sich nicht isoliert voneinander vollziehen, sondern sich gegenseitig hemmen, daß sie, wenn sie einen gewissen Punkt erreicht haben, der von zahlreichen Umständen bestimmt wird, aber auf jeden Fall weit von ihrem mathematischen Grenzwert entfernt ist, einer qualitativen Veränderung unterliegen und in ihrer komplexen Kombination zu dem führen, was wir als soziale Revolution begreifen.

Wir wollen mit dem zuletzt erwähnten Prozeß beginnen, dem Anwachsen des Bewußtseins. Dies vollzieht sich, wie wir wissen, nicht in Akademien, in denen man das Proletariat künstlich 50, 100 oder 500 Jahre festhalten könnte, sondern im vollen Leben der kapitalistischen Gesellschaft auf der Grundlage eines unablässigen Klassenkampfes. Das wachsende Bewußtsein des Proletariats gibt diesem Klassenkampf eine neue Form, verleiht ihm einen tieferen und prinzipielleren Charakter und ruft eine entsprechende Reaktion der herrschenden Klasse hervor. Der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie hat seine eigene Logik, die sich mehr und mehr verschärft, und schon lange bevor die Großbetriebe in allen Wirtschaftszweigen dominieren, zu einer Lösung der Sache kommen wird.

Weiter versteht sich ganz von selbst, daß ein Wachstum des politischen Bewußtseins auf dem zahlenmäßigen Anwachsen des Proletariats beruht wobei die proletarische Diktatur voraussetzt, daß die zahlenmäßige Stärke des Proletariats groß genug ist, um den Widerstand der bürgerlichen Konterrevolution zu brechen. Das bedeutet nun aber keineswegs, daß die „überwältigende Mehrheit“ der Bevölkerung aus Proletariern bestehen muß und die „überwältigende Mehrheit“ des Proletariats aus bewußten Sozialisten. Auf jeden Fall ist klar, daß die bewußte revolutionäre Armee des Proletariats stärker als die konterrevolutionäre Armee des Kapitals sein muß; hierbei müssen sich die unsicheren und indifferenten Zwischenschichten der Bevölkerung in einer Lage befinden, die es erlaubt, daß sie das Regime der proletarischen Diktatur auf die Seite der Revolution zieht und nicht in die Reihen ihrer Feinde stößt. Natürlich muß die Politik des Proletariats dies bewußt in Rechnung stellen.

Dies alles aber setzt seinerseits eine Hegemonie der Industrie über die Landwirtschaft und ein Übergewicht der Stadt über das Land voraus.

Versuchen wir, die Voraussetzungen des Sozialismus zu betrachten, indem wir mit den ganz allgemeinen beginnen und dann zu den komplexeren aufsteigen:

1. Der Sozialismus ist nicht nur eine Frage der gleichmäßigen Verteilung, sondern auch eine Frage der planmäßigen Produktion. Eine sozialistische, d.h. eine kooperative Produktion im großen Umfang, ist nur möglich, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte ein Niveau erreicht hat, auf dem Großbetriebe produktiver arbeiten als kleine. Je größer das Übergewicht des Großbetriebes über den kleinen, d.h. je höher entwickelt die Technik sein wird, desto größer müssen die wirtschaftlichen Vorteile der Sozialisierung der Produktion, desto höher muß folglich das kulturelle Niveau der gesamten Bevölkerung bei der gleichmäßigen Verteilung sein, die auf einer planmäßigen Produktion basiert.

Diese erste objektive Vorbedingung des Sozialismus ist seit langem gegeben. Seit die gesellschaftliche Arbeitsteilung zur Arbeitsteilung in der Manufaktur führte und besonders, seit die Manufaktur von der Fabrik mit maschineller Produktion abgelöst wurde, ist das Großunternehmen immer gewinnbringender geworden, und das heißt, daß auch eine Sozialisierung des Großbetriebs die Gesellschaft immer reicher machen muß Es ist klar, daß der Übergang aller Handwerksbetriebe in das gemeinschaftliche Eigentum aller Handwerker diese nicht im geringsten reicher gemacht hatte wohingegen das Überführen der Manufakturen in das gemeinsame Eigentum der in ihnen beschäftigten Arbeiter oder die Überführung der Fabriken in die Hände der Lohnarbeiter, oder besser gesagt der Übergang aller Produktionsmittel der großen fabrikmäßigen Produktion in die Hände der Gesamtbevölkerung unzweifelhaft ihr materielles Niveau heben würde – und je höher der von der Großproduktion erreichte Stand, desto höher auch dieses Niveau.

In der sozialistischen Literatur wird oft der Antrag des englischen Unterhausmitgliedes Bellers angeführt, der hundert Jahre vor der Verschwörung Babeufs, genau 1696, im Parlament das Projekt der Organisation kooperativer Genossenschaften einbrachte, die alle ihre Bedürfnisse selbständig befriedigen sollten. Nach den Berechnungen des Engländers sollte ein solches Produktionskollektiv ans 200 bis 300 Personen bestehen. Wir können uns hier mit der Prüfung seiner Schlußfolgerungen nicht befassen, und das ist für uns auch unwesentlich – wichtig ist lediglich, daß eine solche kollektivistische Wirtschaft, selbst wenn sie nur 100, 200. 300 oder 500 Personen beschäftigen sollte, bereits Ende des 17. Jahrhunderts Produktionsvorteile bot.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwarf Fourier seinen Plan der Produktions- und Konsumassoziationen, der „phalanstères“, die jeweils aus 2.000 bis 3.000 Personen bestehen sollten. Fouriers Kalkulationen zeichneten sich keineswegs durch Exaktheit aus; aber jedenfalls ließ ihm die Entwicklung des Manufaktursystems zu dieser Zeit wirtschaftliche Kollektive in einem unvergleichlich größeren Umfang sinnvoll erscheinen, als es bei dem eben angeführten Beispiel der Fall war. Es ist nun aber klar, daß die Assoziationen John Bellers, wie auch die phalanstères Fouriers den freien wirtschaftlichen Kommunen bedeutend näher stehen, von denen die Anarchisten träumen, deren Utopismus nicht darin besteht, daß sie überhaupt „unmöglich“ oder „gegen die Natur sind (die kommunistischen Gemeinschaften in Amerika haben bewiesen, daß sie möglich sind), sondern darin, daß sie 100 bis 200 Jahre hinter dem Fortschritt der ökonomischen Entwicklung herhinken.

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einerseits und der maschinellen Produktion andererseits führte dazu, daß der Staat heutzutage das einzige Kooperativ ist, das die Vorteile einer kollektivistischen Wirtschaftsweise in großem Umfang nützen könnte. Mehr noch: auch in die geschlossenen Grenzen einzelner Staaten würde die sozialistische Produktion gar nicht mehr hineinpassen.

Atlanticus [10], ein deutscher Sozialist, der nicht auf dem Standpunkt Marx’ steht, hat Ende des letzten Jahrhunderts die ökonomischen Vorteile einer sozialistischen Wirtschaft in dem Rahmen Deutschlands berechnet. Atlanticus zeichnet sich in keiner Weise durch den Höhenflug seiner Phantasie aus, sein Denken bewegt sich ganz und gar in den Gleisen der wirtschaftlichen Routine des Kapitalismus. Er stützt sich auf die maßgeblichen Schriftsteller der heutigen Agronomie, Technologie – und darin liegt nicht nur seine Schwäche, sondern auch seine starke Seite, weil sie ihn vor übertriebenem Optimismus bewahrt. Atlanticus kommt jedenfalls zu dem Schluß, daß bei zweckmäßiger Organisation der sozialistischen Wirtschaft, bei Ausnutzung aller technischen Mittel in der Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Einkommen des Arbeiters verdoppelt oder verdreifacht und die Arbeitszeit auf die Hälfte des jetzigen Ausmaßes reduziert werden könnte.

Man sollte allerdings nicht annehmen, daß Atlanticus als erster die ökonomischen Vorteile des Sozialismus bewiesen hat: die unendlich hohe Arbeitsproduktivität in den Großbetrieben einerseits und die durch die Wirtschaftskrisen bewiesene Notwendigkeit einer Produktionsplanung andererseits zeugen sehr viel beredter für die wirtschaftlichen Vorzüge des Sozialismus als die sozialistische Buchhaltung des Atlanticus. Sein Verdienst besteht nur darin, daß er diesen Vorzug in Näherungswerten zum Ausdruck gebracht hat.

Das bereits Gesagte rechtfertigt die Schlußfolgerung, daß – wenn das weitere Zunehmen der technischen Macht des Menschen den Sozialismus immer vorteilhafter werden läßt – dann ausreichende technische Voraussetzungen für die kollektivistische Produktion in diesem oder jenem Umfang schon seit 100 bis 200 Jahren gegeben sind, und daß der Sozialismus gegenwärtig nicht allein im einzelstaatlichen, sondern in außerordentlich großem Maße auch im Weltmaßstab technisch vorteilhaft ist.

Aber die technischen Vorzüge des Sozialismus genügen allein keineswegs, um ihn zu verwirklichen. Während des 18. und 19. Jahrhunderts zeigten sich die Vorteile der Großproduktion nicht in einer sozialistischer, sondern in kapitalistischer Form. Weder das Projekt Bellers’ noch das Fouriers wurde verwirklicht. Warum nicht? Weil es zu dieser Zeit keine soziale Kraft gab, die bereit und fähig gewesen wäre beides zu realisieren

2. Jetzt gehen wir von der produktionstechnischen Voraussetzung zur sozial-ökonomischen über, die weniger allgemein aber komplexer ist. Hätten wir es nicht mit einer antagonistischen Klassengesellschaft zu tun sondern mit einer homogenen Gemeinschaft die das System ihrer Wirtschaft bewußt wählt, so genügten schon die Berechnungen des Atlanticus vollständig, um mit dem sozialistischen Aufbau zu beginnen. Atlanticus, ein Sozialist sehr vulgärer Art, meint in seiner Arbeit genau dies.

Eine derartige Theorie ließe sich jedoch gegenwärtig nur in den Grenzen der privaten Wirtschaft einer Person oder einer Aktiengesellschaft anwenden. Man kann immer davon ausgehen, daß das Projekt einer wirtschaftlichen Reform (Einführung neuer Maschinen, neuer Rohstoffe, eines anderen Arbeitsreglements und Entlohnungssystems) von den Besitzern immer dann akzeptiert wird, wenn dieses Reformprojekt unzweifelhafte kommerzielle Vorteile mit sich bringt. Weil wir es hier aber mit der Wirtschaft der Gesamtgesellschaft zu tun haben, ist das allein nicht genug. Hier kämpfen feindliche Interessen miteinander. Was für den einen vorteilhaft ist, schadet dem anderen. Der Egoismus einer Klasse handelt nicht nur gegen den Egoismus einer anderen, sondern auch gegen die Interessen des Ganzen. Folglich ist es zur Verwirklichung des Sozialismus notwendig, daß es unter den antagonistischen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft eine soziale Kraft gibt, die aufgrund ihrer objektiven Lage an der Verwirklichung des Sozialismus interessiert und mächtig genug ist, ihn nach der Überwindung feindlicher Interessen und Widerstände zu realisieren.

Eines der grundlegenden Verdienste des wissenschaftlichen Sozialismus besteht darin, daß er theoretisch im Proletariat eine solche soziale Kraft entdeckte und zeigte, daß diese Klasse, die zwangsläufig mit dem Kapitalismus wächst, ihre Rettung nur im Sozialismus finden kann; daß die Gesamtsituation sie zum Sozialismus treibt und daß schließlich in der kapitalistischen Gesellschaft die Lehre des Sozialismus notwendig zur Ideologie des Proletariats werden muß.

So ist leicht zu sehen, welch einen kolossalen Schritt Atlanticus vom Marxismus zurückgeht, wenn er versichert, daß es – sobald erst einmal bewiesen sei, daß „durch die Überführung der Produktionsmittel in die Hand des Staates nicht nur ein allgemeiner Wohlstand erreicht, sondern auch die Arbeitszeit verkürzt werden kann – völlig unerheblich ist, ob die Theorie der Kapitalkonzentration oder des Verschwindens der Zwischenschichten der Gesellschaft bestätigt wird oder nicht.“ ...

Ist die Vorteilhaftigkeit des Sozialismus einmal bewiesen, so sei es nach Meinung von Atlanticus „nutzlos, all seine Hoffnung auf den Fetisch der wirtschaftlichen Entwicklung zu setzen; man sollte hingegen umfangreiche Untersuchungen anstellen und zu einer umfassenden und gründlichen Vorbereitung des Übergangs von der privaten zur staatlichen oder ‚gesellschaftlichen‘ Produktion schreiten [!]“. [B]

Wenn er sich gegen die nur oppositionellen Taktiken der Sozialdemokratie wendet und empfiehlt, sofort zu den Vorbereitungen für die sozialistische Umgestaltung zu „schreiten“, vergißt Atlanticus. daß der Sozialdemokratie noch immer die dazu notwendige Macht fehlt und daß Wilhelm II., Bülow und die Mehrheit des Deutschen Reichstages, obwohl sie die Macht in Händen halten, nicht die geringste Absicht haben, den Sozialismus einzuführen. Das sozialistische Projekt des Atlanticus überzeugt die Hohenzollern ebensowenig wie die Pläne Fouriers die Bourbonen der Restauration – auch wenn dieser seinen politischen Utopismus auf einer leidenschaftlichen Phantasie im Bereich der wirtschaftlichen Schöpfungen gründete, während Atlanticus sich in seinem nicht geringeren politischen Utopismus auf eine überzeugende, philisterhaft-nüchterne Buchhaltung stützt.

Wie hoch muß das Niveau der sozialen Differenzierung sein, damit die zweite Voraussetzung gegeben ist? Mit anderen Worten: wie groß muß die relative, zahlenmäßige Stärke des Proletariats sein? Muß es die Hälfte, zwei Drittel oder neun Zehntel der Bevölkerung ausmachen?

Es wäre ein völlig hoffnungsloses Unterfangen zu versuchen, den rein arithmetischen Rahmen dieser zweiten Voraussetzung des Sozialismus zu bestimmen. Vor allem würde bei einem solchen Schematismus die Frage auftauchen, wen man zum Proletariat zu zählen hat: Sollen wir die große Schicht der halben Proletarier und halben Bauern mitzählen? Sollen wir die Reservearmee der städtischen Proletarier dazuzählen – die einerseits mit dem parasitären Proletariat der Bettler und Diebe verschmelzen, andererseits die Straßen der Stadt als Kleinhändler bevölkern und also eine parasitäre Rolle in Bezug auf die Gesamtwirtschaft spielen? Diese Frage ist keineswegs einfach.

Die Bedeutung des Proletariats beruht ganz und gar auf seiner Rolle in der Großproduktion. Die Bourgeoisie stützt sich in ihrem Kampf um die politische Herrschaft auf ihre ökonomische Macht. Bevor es ihr gelingt, die Staatsgewalt zu übernehmen, konzentriert sie die Produktionsmittel des Landes in ihren Händen; dies bestimmt auch ihr spezifisches gesellschaftliches Gewicht. Das Proletariat jedoch wird trotz aller genossenschaftlichen Phantasmagorien von den Produktionsmitteln bis zum Augenblick der sozialistischen Revolution abgeschnitten sein. Seine soziale Macht ergibt sich aus der Tatsache, daß die sich in den Händen der Bourgeoisie befindenden Produktionsmittel nur von ihm, dem Proletariat, in Bewegung gesetzt werden können. Vom Gesichtspunkt der Bourgeoisie aus ist das Proletariat also auch eines der Produktionsmittel, das in Verbindung mit anderen einen einzigen einheitlichen Mechanismus darstellt; aber das Proletariat ist der einzige nichtautomatische Teil dieses Mechanismus, und trotz aller Bemühungen kann es nicht auf diesen Zustand eines Automatismus reduziert werden. Diese Position gibt dem Proletariat die Möglichkeit, das richtige Funktionieren der gesellschaftlichen Wirtschaft seinem Willen gemäß teilweise oder ganz zu unterbinden (Einzel- oder Generalstreiks).

Daraus ergibt sich, daß die Bedeutung des Proletariats – bei gleicher zahlenmäßiger Stärke – um so höher ist, je größer die Masse der Produktivkräfte ist, die es in Bewegung setzt: der Proletarier einer großen Fabrik hat – unter sonst gleichen Bedingungen – eine größere soziale Bedeutung als ein Handwerker, ein Proletarier in der Stadt eine größere als ein Proletarier auf dem Lande. Mit anderen Worten: die politische Rolle des Proletariats ist um so gewichtiger, je mehr die Großproduktion über die Kleinproduktion, die Industrie über die Landwirtschaft und die Stadt über das Land dominiert.

Wenn wir die Geschichte Deutschlands oder Englands in der Periode betrachten, in der das Proletariat dieser Länder den gleichen Anteil an der Bevölkerung hatte wie das Proletariat Rußlands heute, so können wir beobachten, daß es nicht die Rolle spielte, die der russischen Arbeiterklasse gegenwärtig zukommt, und dies aufgrund seiner objektiven Bedeutung auch gar nicht konnte.

Dasselbe gilt, wie wir gesehen haben, für die Rolle der Städte. Als die Stadtbevölkerung in Deutschland nur 15 Prozent ausmachte, wie jetzt bei uns, da war nicht daran zu denken, daß die deutschen Städte eine solche politische und ökonomische Rolle im Leben des Landes gespielt hätten, wie es die russischen Städte heute tun. Die Konzentration großer industrieller und kommerzieller Einrichtungen in den Städten und die Verflechtung der Städte mit der Provinz durch ein System von Eisenbahnen haben unseren Städten eine weit größere Bedeutung verliehen, als ihnen allein ihrer Bevölkerungszahl gemäß zukommt; das Wachsen ihrer Bedeutung übertrifft bei weitem ihren Bevölkerungszuwachs, während das Bevölkerungswachstum der Städte wiederum größer ist als die natürliche Zunahme der Gesamtbevölkerung ... In Italien betrug 1848 die Zahl der Handwerker – nicht nur der Proletarier, sondern auch der Meister – etwa 15 Prozent der Bevölkerung, d.h. nicht weniger als der Anteil der Handwerker und Proletarier im Rußland der Gegenwart. Aber die Rolle, die sie spielten, war unvergleichlich viel geringer als die des Industrieproletariats im heutigen Rußland.

Dies alles zeigt deutlich, daß der Versuch, im voraus zu bestimmen, welchen Anteil an der Gesamtbevölkerung das Proletariat im Augenblick der Eroberung der Staatsgewalt haben muß, eine fruchtlose Arbeit ist. Statt dessen werden wir ein paar ungefähre Daten anführen, um zu zeigen, welchen Bevölkerungsanteil das Proletariat gegenwärtig in den fortgeschrittenen Ländern stellt.

Im Jahre 1895 entfielen in Deutschland von der Gesamtzahl der erwerbstätigen Bevölkerung von 20,5 Millionen (ohne Armee, Staatsbeamte und Personen mit unbestimmter Beschäftigung) 12,5 Millionen auf das Proletariat (Lohnarbeiter in Landwirtschaft, Industrie, Handel sowie Hausangestellte); die eigentliche Zahl der Land- und Industriearbeiter betrug 10,75 Millionen. Was die übrigen 8 Millionen angeht, so sind viele davon im Grunde auch Proletarier (etwa Arbeiter in der Keimindustrie, arbeitende Familienmitglieder usw.). Die Zahl der Lohnarbeiter allein betrug in der Landwirtschaft 5,75 Millionen. Die gesamte landwirtschaftliche Bevölkerung machte etwa 36 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Diese Zahlen, wir wiederholen es, gelten für das Jahr 1895. In den verflossenen elf Jahren haben fraglos riesige Veränderungen stattgefunden, die im allgemeinen in eine Richtung gingen: es vergrößerte sich die Zahl der städtischen im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Bevölkerung (1882 betrug die Landbevölkerung 42 Prozent), die Zahl des gesamten Proletariats im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und die Zahl des industriellen Proletariats im Verhältnis zum ländlichen; schließlich entfällt heute auf jeden Industriearbeiter mehr produktives Kapital als 1895. Aber selbst die für 1895 angegebenen Zahlen zeigen, daß das deutsche Proletariat schon seit langem die dominierende Produktivkraft des Landes darstellt.

Belgien mit seiner 7-Millionen-Bevölkerung ist ein reines Industrieland. Von 100 Personen, die irgendeiner Beschäftigung nachgehen, arbeiten 41 in der Industrie im engeren Sinne und nur 21 in der Landwirtschaft. Von den etwas mehr als 3 Millionen Erwerbstätigen entfallen ungefähr 1,8 Millionen, das sind ungefähr 60 Prozent, auf das Proletariat. Diese Zahlen wären sehr viel aussagekräftiger, wenn wir zu dem scharf differenzierten Proletariat die ihm verwandten sozialen Elemente hinzuzählten – die nur formal „selbständigen“ Produzenten, die in Wirklichkeit aber vom Kapital versklavt sind, kleine Beamte, Soldaten usw.

Aber den ersten Platz unter dem Gesichtspunkt der Industrialisierung der Wirtschaft und der Proletarisierung der Bevölkerung nimmt zweifellos England ein. Im Jahre 1901 betrug die Zahl der in Landwirtschaft, Fischerei und Forsten Beschäftigten 2,3 Millionen, während in Industrie, Handel und Transport 12,5 Millionen Personen beschäftigt waren.

Daraus ergibt sich, daß in den wichtigsten europäischen Ländern die Stadtbevölkerung zahlenmäßig die des Landes übertrifft. Aber die Vorherrschaft der städtischen Bevölkerung beruht nicht nur auf der Masse der produktiven Kräfte, die sie darstellt, sondern in weit höherem Maße auf ihrer qualitativen personellen Zusammensetzung. Die Stadt zieht die energischsten, fähigsten und intelligentesten Elemente des Dorfes zu sich hin. Dies statistisch nachzuweisen ist schwierig, obwohl ein Vergleich des Altersaufbaus der Stadt- und Landbevölkerung als indirekter Beweis gelten kann; diese Tatsache hat ihre eigene Bedeutung. So zählte man in Deutschland im Jahre 1896 8 Millionen Beschäftigte in der Landwirtschaft und 8 Millionen Beschäftigte in der Industrie. Teilt man aber die Bevölkerung in Altersgruppen auf, so ergibt sich, daß die Landwirtschaft eine Million Personen im Alter zwischen 14 und 40 Jahren, die sich also im vollen Besitz ihrer körperlichen Kräfte befinden, weniger hatte als die Industrie. Dies zeigt, daß vornehmlich „die Alten und die Kleinen“ auf dem Lande bleiben.

Aus all dem können wir zu dem Schluß kommen, daß die ökonomische Evolution – das Wachstum der Industrie, das Wachstum der Großbetriebe. das Wachstum der Städte, das Wachstum des Proletariats im allgemeinen und des Industrieproletariats im besonderen – bereits den Schauplatz bereitet hat, nicht nur für den Kampf des Proletariats um die politische Macht, sondern auch für ihre Eroberung.

3. Nun wenden wir uns der dritten Voraussetzung des Sozialismus zu, der Diktatur des Proletariats.

Die Politik ist die Ebene, auf der die objektiven Voraussetzungen sich mit den subjektiven überschneiden. Unter bestimmten technischen und sozial-ökonomischen Bedingungen setzt sich eine Klasse bewußt ein bestimmtes Ziel – die Eroberung der Macht; sie vereint ihre Kräfte, wägt die Stärke des Gegners ab und beurteilt die Situation.

Auch in diesem dritten Bereich ist das Proletariat jedoch nicht absolut frei; neben den subjektiven Momenten – Bewußtsein, Bereitschaft und Initiative, deren Entwicklung ebenfalls ihre eigene Logik hat – stößt das Proletariat in seiner Politik auf eine Reihe objektiver Momente, wie: die Politik der herrschenden Klassen, die bestehenden staatlichen Institutionen (Armee, Schulen mit Klassencharakter, Staatskirche), die internationalen Beziehungen usw.

Wir werden zunächst das subjektive Moment behandeln – die Bereitschaft des Proletariats zur sozialistischen Umwälzung.

Zweifellos genügt es nicht, daß das Niveau der Technik eine sozialistische Wirtschaft vom Standpunkt der Produktivität gesellschaftlicher Arbeit hat vorteilhaft werden lassen. Noch genügt es, daß die soziale Differenzierung auf der Grundlage dieser Technik ein Proletariat geschaffen hat, das wegen seiner zahlenmäßigen und wirtschaftlichen Bedeutung die wichtigste Klasse darstellt, die aus objektiven Gründen am Sozialismus interessiert ist. Es ist darüber hinaus notwendig, daß sich diese Klasse ihres objektiven Interesses bewußt ist. Es ist notwendig, daß sie versteht, daß es für sie keinen anderen Ausweg als den Sozialismus gibt; es ist notwendig, daß sie sich zu einer Armee vereint, die stark genug ist, um die Staatsgewalt in offenem Kampf zu erobern.

Unter den heute gegebenen Umständen wäre es unsinnig zu leugnen, daß das Proletariat in dieser Weise vorbereitet sein muß. Nur die alten Blanquisten konnten auf die rettende Initiative verschwörerischer Organisationen hoffen, die sich ohne Kontakt mit den Massen herausgebildet haben; oder ihre Antipoden, die Anarchisten, mögen auf einen spontanen, elementaren Ausbruch der Massen hoffen, von dem es unbekannt bleibt, wodurch er seinen Abschluß findet; die Sozialdemokratie versteht unter der Eroberung der Macht eine bewußte Aktion der revolutionären Klasse.

Aber viele sozialistische Ideologen (Ideologen im schlechten Sinne – diejenigen, die alles auf den Kopf stellen) reden von der Vorbereitung des Proletariats auf den Sozialismus im Sinne seiner moralischen Umwandlung. Das Proletariat und „die Menschheit“ überhaupt müßten vor allem ihre alte egoistische Natur ablegen, im gesellschaftlichen Leben sollten die Impulse des Altruismus vorherrschen usw. ... Da wir bis jetzt von einem solchen Zustand sehr weit entfernt seien und „die menschliche Natur“ sich nur äußerst langsam verändern werde, sei der Ausbruch des Sozialismus um einige Jahrhunderte in die Ferne gerückt. Eine derartige Auffassung scheint sehr realistisch und evolutionär usw. ... In Wirklichkeit gründet sie sich jedoch auf platte moralische Erwägungen.

Es wird angenommen, daß die sozialistische Psychologie eher da sein muß als der Sozialismus, mit anderen Worten, daß es möglich ist, den Massen auf der Grundlage kapitalistischer Verhältnisse eine sozialistische Psychologie einzutrichtern. Man darf hier nicht das bewußte Streben nach dem Sozialismus mit sozialistischer Psychologie verwechseln. Diese setzt das Fehlen egoistischer Motive in der Sphäre des ökonomischen Lebens voraus, während die Bestrebungen und die Kämpfe um den Sozialismus aus der Klassenpsychologie des Proletariats entstehen. Wie viele Berührungspunkte es zwischen der Klassenpsychologie des Proletariats und der sozialistischen Psychologie einer klassenlosen Gesellschaft auch immer geben mag, es trennt sie doch ein tiefer Abgrund.

Der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeutung läßt in der Seele des Arbeiters kostbare Ansätze des Idealismus, der kameradschaftlichen Solidarität und der selbstlosen Opferbereitschaft keimen, aber zugleich läßt der individuelle Existenzkampf, der ewig gähnende Rachen der Armut, die Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft selbst, der Druck der unwissenden Massen von unten und die korrumpierende Tätigkeit der bürgerlichen Parteien eine volle Entfaltung dieser kostbaren Ansätze nicht zu.

Aber der Kern der Sache besteht darin, daß sich der durchschnittliche Arbeiter – obwohl er kleinbürgerlich-egoistisch bleibt und in seinem „menschlichen“ Wert die durchschnittlichen Vertreter der bürgerlichen Klassen nicht übertrifft – durch die Lebenserfahrung davon überzeugt, daß seine einfachsten Wünsche und natürlichsten Bedürfnisse nur auf den Trümmern des kapitalistischen Systems befriedigt werden können.

Die Idealisten stellen sich die ferne künftige Generation, die des Sozialismus würdig sein wird, genauso vor, wie die Christen sich die Mitglieder der ersten christlichen Gemeinden vorstellen.

Wie auch immer die Psychologie der ersten Proselyten des Christentums gewesen sein mag – wir wissen aus der Apostelgeschichte, daß es Fälle von Verheimlichung des Eigentums vor der Gemeinde gegeben hat –, auf jeden Fall mißlang dem Christentum im Zuge seiner Verbreitung nicht nur die Umwandlung der Gesinnung des Volkes, sondern es degenerierte auch selbst, wurde materialistisch und bürokratisch; von der brüderlichen gegenseitigen Belehrung ging es über zum Papismus, von den Bettelorden zum klösterlichen Parasitentum, mit einem Wort: es unterwarf sich nicht die sozialen Bedingungen des Milieus, in dem es sich verbreitete, sondern wurde selbst von diesem unterworfen. Und dies geschah nicht infolge der Ungeschicklichkeit oder des Eigennutzes der Väter und Lehrer des Christentums, sondern als Folge der unumstößlichen Gesetze der Abhängigkeit der menschlichen Psychologie von den Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens. Und diese Abhängigkeit zeigten die Väter und Lehrer des Christentums in ihrer eigenen Person.

Wenn der Sozialismus nur daran gedacht hätte, eine neue menschliche Natur im Rahmen der alten Gesellschaft zu schaffen, wäre er nichts anderes als eine Neuausgabe moralistischer Utopien. Der Sozialismus stellt sich nicht die Aufgabe, eine sozialistische Psychologie als Voraussetzung für den Sozialismus zu entwickeln, sondern sozialistische Lebensbedingungen als Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie zu schaffen.

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Fußnoten von Trotzki

A. N. Roschkow, K agrarnomu woprosu [Zur Agrarfrage], St. Petersburg 1904, S.21 u. S.22.

B. Atlantikus, Gosudarstwo buduschtschago [Der Zukunftsstaat], St. Petersburg 1906, S.22 u. S.23 [vgl. Karl Ballod (Atlanticus), Ein Blick in den Zukunftsstaat, Produktion und Konsumtion im Sozialstaat, Stuttgart (Dietz) 1898].

Anmerkungen

9. vgl. die Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901 (1. russ. Aufl. Petersburg 1894) sowie Theoretische Grundlagen des Marxismus, Leipzig 1905.

10. Pseudonym für Karl Ballod.


8. Die Arbeiterregierung in Rußland und der Sozialismus

Wir haben oben gezeigt, daß die objektiven Voraussetzungen einer sozialistischen Revolution schon von der ökonomischen Entwicklung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder geschaffen wurden. Was aber können wir in dieser Beziehung über Rußland sagen? Können wir erwarten, daß der Übergang der Macht in die Hände des russischen Proletariats den Anfang einer Umstellung unserer nationalen Wirtschaft auf sozialistische Prinzipien bilden wird?

Vor einem Jahr antworteten wir auf diese Frage folgendermaßen in einem Artikel, der dem heftigen Kreuzfeuer beider Fraktionen unserer Partei ausgesetzt war:

Die Pariser Arbeiter (sagt Marx [11]) „verlangten von ihrer Kommune keine Wunder. Auch heute dürfen wir von der Diktatur des Proletariats keine politischen Wunder erwarten. Die Staatsgewalt ist nicht allmächtig. Es wäre unsinnig anzunehmen, das Proletariat brauche lediglich die Macht zu bekommen – und schon werde es mit Hilfe einiger Dekrete den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzen. Ein ökonomisches System ist nicht das Produkt der Tätigkeit des Staates. Das Proletariat kann nur mit aller Energie die Staatsgewalt dazu benutzen, den Weg der wirtschaftlichen Evolution zum Kollektivismus hin zu erleichtern und zu verkürzen.

Das Proletariat wird mit den Reformen beginnen, die im sogenannten Minimalprogramm stehen, und davon ausgehend wird die Logik seiner Position es dazu zwingen, zur kollektivistischen Praxis überzugehen.

Die Einführung des Achtstundentages und einer stark progressiven Einkommensteuer wird relativ leicht sein, obwohl auch hier der Schwerpunkt nicht im Erlassen eines „Aktes“ liegt, sondern in der Organisation seiner praktischen Durchführung. Die Hauptschwierigkeit wird aber – und dies ist der Übergang zum Kollektivismus! – in der Organisation der Produktion auf der Basis staatlicher Rechnungsführung in den Fabriken und Betrieben bestehen, die von ihren Eigentümern als Antwort auf diese Verordnungen geschlossen weren.

Ein Gesetz über die Aufhebung der Erbrechte zu erlassen und dieses Gesetz in der Praxis durchzuführen, wird wiederum eine relativ leichte Aufgabe sein; Erbschaften in Form von Geldkapital werden das Proletariat auch nicht stören und seine Wirtschaftsordnung belasten. Aber wenn er das Erbe von Boden- und Industriekapital antritt, so bedeutet das für den Arbeiterstaat die Organisation der Wirtschaft aufgrund gesellschaftlicher Rechnungsführung.

Dasselbe gilt in noch größerem Maße für die Enteignung – gleich, ob sie mit oder ohne Entschädigung vorgenommen wird. Die Enteignung mit Entschädigung bietet politische Vorteile, wird aber finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringen, wohingegen eine entschädigungslose Enteignung finanzielle Vorteile, aber auch politische Erschwernisse bietet. Aber größer als diese oder jene Schwierigkeiten werden die wirtschaftlichen und organisatorischen Probleme sein.

Wir wiederholen: die Regierung des Proletariats ist keine Regierung, die Wunder vollbringen kann.

Die Vergesellschaftung der Produktion beginnt mit den Industriezweigen, die die geringsten Schwierigkeiten bereiten. In der ersten Phase wird die vergesellschaftete Produktion Oasen gleichen, die mit den privaten Unternehmen durch die Gesetze der Warenzirkulation verknüpft sind. Je weiter das Feld ist, das von der vergesellschafteten Wirtschaft ergriffen wird. desto offensichtlicher werden ihre Vorteile zutage treten, desto sicherer wird sich das neue politische Regime fühlen und desto kühner werden die weiteren wirtschaftlichen Maßnahmen des Proletariats werden. Bei diesen Maßnahmen kann und wird es sich nicht allein auf die nationalen Produktivkräfte stützen, sondern auch auf die internationale Technik, ähnlich wie es sich in seiner revolutionären Politik nicht nur auf die Erfahrungen der nationalen Klassenverhältnisse, sondern auch auf die gesamte historische Erfahrung des internationalen Proletariats stützt.

Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat –, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem „minimalen“ und dem „maximalen“ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.

Das proletarische Regime muß schon in der allerersten Zeit die Lösung der Agrarfrage in Angriff nehmen, mit der das Schicksal großer Massen der Bevölkerung Rußlands zusammenhängt. Das Proletariat wird bei der Lösung dieses Problems – wie auch all der übrigen – von dem wichtigsten Bestreben seiner Wirtschaftspolitik geleitet, nämlich, ein möglichst großes Feld für die Organisation der sozialistischen Wirtschaft in Besitz zu nehmen. In der Agrarfrage müssen Formen und Tempo dieser Politik einmal bestimmt sein von den materiellen Ressourcen, die dem Proletariat zur Verfügung stehen, sodann auch von der Notwendigkeit, seine Maßnahmen so zu treffen, daß die potentiellen Verbündeten nicht in die Reihen der Konterrevolutionäre gedrängt werden.

Die Agrarfrage, d.h. die Frage des Schicksals der Landwirtschaft und ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, erschöpft sich natürlich nicht in der Bodenfrage, d.h. der Frage nach den Formen des Grundbesitzes. Zweifelsohne jedoch wird die Lösung der Bodenfrage, wenn nicht den Entwicklungsgang der Landwirtschaft vorentscheiden, so doch zumindest die Agrarpolitik des Proletariats; mit anderen Worten: die Bestimmung, die das proletarische Regime dem Boden gibt, muß eng verknüpft sein mit seinem allgemeinen Verhältnis zum Verlauf und den Erfordernissen der landwirtschaftlichen Entwicklung. Aus diesem Grunde steht die Bodenfrage an erster Stelle.

Eine der Lösungen der Bodenfrage, der die Sozial-Revolutionäre eine durchaus lobenswerte Popularität verliehen haben, ist die Sozialisierung des ganzen Landes – ein Begriff, der, von seiner europäischen Schminke befreit, nichts anderes bedeutet als die Schwarze Umverteilung. [12] Das Programm der ausgleichenden Umverteilung setzt somit die Expropriation des gesamten Bodens voraus – nicht nur des privaten Landbesitzes überhaupt, nicht nur des privaten Bauernlandes, sondern selbst des Gemeindelandes. Wenn wir in Betracht ziehen, daß diese Enteignung einer der ersten Schritte des neuen Regimes noch unter der uneingeschränkten Herrschaft warenkapitalistischer Verhältnisse zu sein hätte, dann zeigt sich, daß die ersten „Opfer“ dieser Enteignung die Bauern wären oder diese sich doch als solche fühlen würden. Wenn wir in Betracht ziehen, daß der Bauer jahrzehntelang die Ablösungssummen zahlte, die den ihm zugewiesenen Landanteil zu seinem Privateigentum werden lassen sollten, [13] wenn wir in Betracht ziehen, daß einzelne wohlhabende Bauern – zweifellos unter großen Opfern der noch lebenden Generation – eine riesige Landfläche als Eigentum erworben haben, dann können wir uns leicht vorstellen, ein welch großer Widerstand gegenüber dem Versuch geleistet würde, das Gemeindeland und die privaten Kleinparzellen zu Staatseigentum zu erklären! Ginge das neue Regime auf diese Weise vor, würde es damit beginnen, gewaltige Bauernmassen gegen sich aufzureizen.

Wozu sollten das Gemeindeland und die kleinen privaten Bodenanteile in Staatseigentum übergehen? Um sie auf diese oder jene Weise zur „ausgleichenden“ wirtschaftlichen Nutzung durch alle Bauern einschließlich der gegenwärtig landlosen Schichten und der Landarbeiter zur Verfügung zu stellen. Daher würde das neue Regime also wirtschaftlich nichts durch die Enteignung des kleinen Besitzes und des Gemeindelandes gewinnen, denn nach der Neuverteilung würde der staatliche oder öffentliche Boden in privatwirtschaftliche Bearbeitung übergehen. Politisch würde das neue Regime einen gewaltigen Fehler begehen, da es sofort die Masse der Bauern in Gegensatz zum Stadtproletariat als dem Führer der revolutionären Politik brächte.

Außerdem setzt die ausgleichende Verteilung voraus, daß die Beschäftigung von Lohnarbeit vom Gesetzgeber verboten wird. Die Abschaffung der Lohnarbeit kann und muß eine Folge der wirtschaftlichen Reformen sein, sie kann jedoch nicht durch juristische Verbote vorentschieden werden. Es genügt nicht. dem kapitalistischen Landwirt zu verbieten, Lohnarbeiter zu beschäftigen, man muß vorher für die Möglichkeit sorgen, dem landlosen Bauern seine Existenz zu sichern – und zwar eine vom gesamtwirtschaftlichen Standpunkt rationale Existenz. Übrigens bedeutet das Programm der ausgleichenden Bodennutzung, das die Lohnarbeit verbietet, einerseits, daß man die Landlosen verpflichtet, sich auf winzigen Fleckchen anzusiedeln, und andererseits, daß man den Staat verpflichtet, sie mit dem für ihre gesellschaftlich-irrationale Produktion notwendigen Inventar auszustatten.

Es ist selbstverständlich, daß der Eingriff des Proletariats in die Organisation der Landwirtschaft nicht damit anfangen wird, verstreute Arbeiter an verstreute Landstückchen zu binden, sondern mit der Nutzung großer Güter auf der Grundlage staatlicher oder kommunaler Rechnungsführung.

Erst wenn die vergesellschaftete Produktion auf den Füßen steht, kann der weitere Prozeß der Sozialisierung vorangetrieben werden durch ein Verbot der Lohnarbeit. Das wird die kleine kapitalistische Landwirtschaft unmöglich machen, aber dennoch den sich ganz oder teilweise selbstversorgenden landwirtschaftlichen Betrieben genügend Raum lassen; deren gewaltsame Enteignung entspricht keineswegs dem Plan des sozialistischen Proletariats.

Auf jeden Fall kann das Proletariat kein Programm einer „ausgleichenden Verteilung“ zur Richtschnur nehmen, das einerseits eine ziellose, rein formale Enteignung von Kleinbesitzern voraussetzt und andererseits die völlige Zersplitterung der großen Güter in kleine Stücke fordert. Diese wirtschaftlich gesehen direkt verschwenderische Politik könnte nur von einem reaktionär-utopischen Hintergedanken ausgehen und würde vor allem die revolutionäre Partei politisch schwächen.

Aber wie weit kann die sozialistische Politik der Arbeiterklasse unter den wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands gehen? Eins können wir mit Sicherheit sagen: daß sie viel früher auf politische Hindernisse stoßen als über die technische Rückständigkeit des Landes stolpern wird. Ohne die direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat kann die russische Arbeiterklasse sich nicht an der Macht halten und ihre zeitweilige Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur umwandeln. Daran kann nicht einen Augenblick lang gezweifelt werden. Aber andererseits kann auch nicht daran gezweifelt werden, daß eine sozialistische Revolution im Westen es uns erlaubt, die zeitweilige Herrschaft der Arbeiterklasse unmittelbar und direkt in eine sozialistische Diktatur zu verwandeln.

Im Jahre 1904 schrieb Kautsky, als er die Perspektiven der sozialen Entwicklung erörterte und die Möglichkeit einer baldigen Revolution in Rußland abschätzte: „Die Revolution könnte in Rußland nicht unverzüglich zu einem sozialistischen Regime führen. Dafür sind die ökonomischen Bedingungen des Landes längst nicht reif genug.“ Aber die russische Revolution muß der proletarischen Bewegung im übrigen Europa einen kräftigen Stoß versetzen, und als Folge des dann aufflammenden Kampfes könnte das Proletariat in Deutschland eine beherrschende Stellung einnehmen. „Solch ein Ausgang“, fährt Kautsky fort, „muß einen Einfluß auf ganz Europa ausüben. Er muß zur politischen Herrschaft des Proletariats in Westeuropa führen und für das osteuropäische Proletariat die Möglichkeit schaffen, die Stufen seiner Entwicklung zu verkürzen und, das deutsche Beispiel nachahmend, künstlich sozialistische Institutionen aufzubauen. Die Gesellschaft als ganze kann nicht künstlich irgendwelche Stadien ihrer Entwicklung überspringen, aber für einzelne konstitutive Teile der Gesellschaft ist es möglich, ihre verzögerte Entwicklung durch die Nachahmung der fortgeschritteneren Länder zu beschleunigen und sich dank dessen selbst an die vorderste Front der Entwicklung zu setzen, da sie nicht mit dem Ballast der Tradition belastet sind, den die alten Länder mit sich schleppen müssen ...“ „Dies kann geschehen“, schreibt Kautsky weiter, „aber wir verlassen hier, wie wir bereits betont haben, den Bereich der Notwendigkeit und betreten den der Möglichkeit, und so mögen sich die Dinge ganz anders entwickeln.“ [A]

Diese Zeilen schrieb der Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie zu einer Zeit, als es für ihn noch fraglich war, ob die Revolution zuerst in Rußland oder im Westen ausbrechen werde.

Später zeigte das russische Proletariat eine Kraft, die in diesem ungeheuren Ausmaß von den russischen Sozialdemokraten selbst in ihrer optimistischsten Stimmung nicht erwartet worden war. Der Verlauf der russischen Revolution war in seinen Grundzügen entschieden. Was vor zwei oder drei Jahren eine Möglichkeit war oder schien, ist zur unmittelbaren Wahrscheinlichkeit geworden, und alles spricht dafür, daß diese Wahrscheinlichkeit bereit ist, zur Notwendigkeit zu werden.

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Fußnoten von Trotzki

A. K. Kautskij, Rewoljutsjonnija perspektivy [Revolutionäre Perspektiven], Kiew 1906.

Anmerkungen

11. vgl. Der Bürgerkrieg in Frankreich, in MEW, Berlin 1962, Bd.17, S.343.

12. Tschornyj Peredel, spontane Aufteilung des Gutsbesitzerlandes durch die Bauern.

13. Nach der Befreiung von 1861 hatten die Bauern für das gutsherrliche Land, das sie erhielten, hohe Loskaufzahlungen zu leisten.

9. Europa und die Revolution

Im Juni 1905 haben wir geschrieben:

Seit dem Jahre 1848 ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Ein halbes Jahrhundert unablässiger Eroberungen des Kapitalismus in der ganzen Welt. Ein halbes Jahrhundert der „organischen“ gegenseitigen Anpassung der Kräfte der bürgerlichen Reaktion und der feudalen Reaktion. Ein halbes Jahrhundert, in dessen Verlauf die Bourgeoisie ihre wahnwitzige Herrschaft und ihre Bereitschaft, blindwütig um die Herrschaft zu kämpfen, enthüllt hat!

Ebenso wie ein phantasiebesessener Mechaniker auf der Jagd nach dem Perpetuum mobile auf immer neue Hindernisse stößt und Mechanismus auf Mechanismus türmt, sie zu überwinden, so hat die Bourgeoisie ihren Herrschaftsapparat verändert und umgebaut, während sie den „ungesetzlichen“ Konflikt mit den ihr feindlichen Kräften mied. Aber geradeso wie unser autodidaktischer Mechaniker schließlich auf das letzte unüberwindliche Hindernis stößt, das Gesetz von der Erhaltung der Energie, so muß die Bourgeoisie auf die letzte unerbittliche Schranke stoßen: den Klassenantagonismus, der sich unweigerlich in einem Konflikt entlädt.

Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts- und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt. Wie der moderne Kredit Tausende von Unternehmern durch ein unsichtbares Band verknüpft und dem Kapital eine erstaunliche Beweglichkeit verleiht, viele kleine Privatbankrotts verhindert, damit aber zugleich die allgemeinen Wirtschaftskrisen zu unerhörten Ausmaßen steigert – so hat auch die ganze ökonomische und politische Arbeit des Kapitalismus, sein Welthandel, sein System monströser Staatsschulden sowie die politischen Gruppierungen von Nationen, die alle Kräfte der Reaktion in eine Art weltweite Aktiengesellschaft einbeziehen, nicht nur allen einzelnen politischen Krisen entgegengewirkt, sondern auch den Boden für eine soziale Krise von unerhörten Ausmaßen bereitet. Dadurch, daß die Bourgeoisie alle Krankheitssymptome unter die Oberfläche verdrängt, allen Schwierigkeiten aus dem Weg geht, alle grundlegenden Fragen der Innen- und Außenpolitik vor sich herschiebt und alle Widersprüche vertuscht, hat sie deren Lösung vertagt – dadurch aber nur eine radikale Liquidierung ihrer Herrschaft im weltweiten Maßstab vorbereitet. Die Bourgeoisie hat sich gierig an jede reaktionäre Gewalt geklammert, ohne nach ihrer Herkunft zu fragen. Der Papst und der Sultan waren nicht die letzten unter ihren Freunden. Nur deshalb hat sie keine „freundschaftlichen“ Bande zum Kaiser von China angeknüpft, weil dieser überhaupt keine Kraft darstellte: es war weit vorteilhafter für die Bourgeoisie, seine Besitzungen zu plündern, als ihn als Oberaufseher in ihren Diensten zu halten und ihn aus ihrer eigenen Tasche zu bezahlen. Die Weltbourgeoisie brachte also die Stabilität ihres staatlichen Systems in tiefe Abhängigkeit von den unstabilen vorbürgerlichen Bollwerken der Reaktion.

Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Rußlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, läßt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat. [A]

Wenn das russische Proletariat, das vorübergehend die Macht erlangt hat, nicht aus eigener Initiative die Revolution auf den Boden Europas überträgt, so wird die europäische feudalbourgeoise Reaktion es dazu zwingen.

Es wäre natürlich sinnlos, jetzt im vorhinein zu entscheiden, auf welchen Wegen sich die russische Revolution auf das alte kapitalistische Europa ausbreiten wird: diese Wege können sich als völlig unpassierbar erweisen. Mehr zur Illustration des Gedankens als im Sinne einer Voraussage wollen wir hier auf Polen als dem Bindeglied zwischen dem revolutionären Osten und dem revolutionären Westen eingehen. Der Triumph der Revolution in Rußland bedeutet notwendig auch den Sieg der Revolution in Polen. Man kann sich unschwer vorstellen, daß ein revolutionäres Regime in den zehn von Rußland angeeigneten polnischen Gouvernements zu einer Erhebung Galiziens und Posens führen muß. Die Regierungen der Hohenzollern und Habsburger werden darauf mit einer Konzentration militärischer Kräfte an der polnischen Grenze antworten, um diese dann zu überschreiten und den Feind in seinem Zentrum – in Warschau – zu schlagen. Es ist ganz offensichtlich, daß die russische Revolution ihre westliche Avantgarde nicht in den Händen der preußisch-österreichischen Söldner lassen kann. Der Krieg gegen die Regierungen Wilhelm II. und Franz Josefs stellt für die revolutionäre Regierung Rußlands unter diesen Bedingungen einen Akt der Selbsterhaltung dar. Welche Position würde hierbei das deutsche und österreichische Proletariat einnehmen? Es ist klar, daß es einem konterrevolutionären Kreuzzug seiner nationalen Armeen nicht ruhig zuschauen kann. Der Krieg eines feudal-bourgeoisen Deutschland gegen ein revolutionäres Rußland bedeutet unweigerlich die proletarische Revolution in Deutschland. Wem diese Behauptung zu kategorisch erscheint, dem empfehlen wir, sich ein anderes historisches Ereignis vorzustellen, bei dem die Wahrscheinlichkeit einer offenen Kraftprobe der deutschen Arbeiter und der deutschen Reaktionäre größer wäre.

Als unser Oktoberministerium über Polen unerwartet das Kriegsrecht verhängte, verbreitete sich das sehr plausible Gerücht, daß dies auf direkte Anweisung aus Berlin geschehen sei. Am Vorabend der Auseinanderjagung der Duma berichtete die Regierungszeitung in Form einer Drohung über Verhandlungen zwischen den Regierungen in Berlin und Wien über einen bewaffneten Eingriff in die inneren Angelegenheiten Rußlands zur Unterdrückung der Unruhen. Kein ministerielles Dementi konnte die erschütternde Wirkung dieser Nachricht auslöschen. Es war klar, daß in den Höfen der drei benachbarten Staaten ein blutiges konterrevolutionäres Strafgericht vorbereitet wurde. Wie hätte es auch anders sein können? Konnten die benachbarten halbfeudalen Monarchien passiv zusehen, wie die Flammen der Revolution an den Grenzen ihrer Besitzungen züngelten?

Die russische Revolution hat, wenn auch noch weit von ihrem Sieg entfernt, über Polen bereits ihre Wirkung auf Galizien ausgeübt. „Wer hätte vor einem Jahr vorhergesehen“, rief Daschinski im Mai dieses Jahres auf der Lemberger Konferenz der polnischen Sozialdemokratie, „was jetzt in Galizien geschieht! Das ist eine große Bauernbewegung. die in ganz Österreich Erstaunen ausgelöst hat! Zborac wählt einen Sozialdemokraten zum Vizemarschall des Regionalrates. Bauern geben eine sozialistisch-revolutionäre Zeitung heraus und nennen sie Rote Fahne; es finden große Massenkundgebungen statt, an denen 30000 Bauern teilnehmen, Umzüge mit roten Fahnen, auf denen revolutionäre Lieder gesungen werden, ziehen durch die früher so ruhigen und apathischen galizischen Dörfer ... Was wird geschehen, wenn diese verarmten Bauern aus Rußland der Ruf nach Nationalisierung des Bodens erreicht!“

In seiner Auseinandersetzung mit dem polnischen Sozialisten Lusnia wies Kautsky vor mehr als zwei Jahren darauf hin, daß Rußland nicht länger als ein Klotz am Bein Polens betrachtet werden darf oder Polen als der östliche Vortrupp des revolutionären Europa, der in die Steppen der moskowitischen Barbarei eingebrochen sei. Im Falle des Fortschreitens und des Sieges der russischen Revolution wird nach Kautskys Worten „die polnische Frage erneut akut werden, aber nicht im Sinne Lusnias; Polen wird seine Stacheln nicht gegen Rußland, sondern gegen Österreich und Deutschland kehren, und wenn es der Sache der Revolution dient, wird es seine Aufgabe sein, nicht die Revolution gegen Rußland zu verteidigen, sondern sie von Rußland nach Österreich und Deutschland hineinzutragen.“ Diese Vorhersage ist jetzt der Verwirklichung viel näher, als Kautsky selbst denken mochte.

Aber ein revolutionäres Polen ist keineswegs der einzige mögliche Ausgangspunkt für die europäische Revolution. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, daß die Bourgeoisie schon seit Jahrzehnten systematisch der Lösung vieler komplexer und brennender Probleme aus dem Wege gegangen ist, nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Außenpolitik. Obwohl die bürgerlichen Regierungen riesige Menschenmassen zu den Waffen gerufen haben, fehlt ihnen doch die Entschlußkraft, die verwickelten Fragen der internationalen Politik mit dem Schwerte zu durchhauen. Nur eine Regierung, die von einer Nation unterstützt wird, deren Lebensinteressen bedroht sind, oder aber eine Regierung, die allen Boden unter ihren Füßen verloren hat und von dem Mut der Verzweiflung ergriffen ist, kann Hunderttausende von Männern ins Feuer schicken. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der politischen Kultur und der militärischen Technik, des allgemeinen Wahlrechts und der allgemeinen Wehrpflicht kann nur tiefes Vertrauen oder wahnwitziger Jähzorn zwei Nationen in Konflikt miteinander kommen lassen. Im preußisch-französischen Krieg von 1870 sehen wir auf der einen Seite Bismarck, der für die Verpreußung kämpft, d.h. immerhin für die nationale Vereinigung Deutschlands – ein elementares Bedürfnis, das jeder Deutsche verspürte –, und auf der anderen die Regierung Napoleon III., unverschämt, machtlos, vom Volk verachtet, zu jedem Abenteuer bereit, das ihm eine Lebensfrist von weiteren zwölf Monaten versprach. Ähnlich waren die Rollen im russisch-japanischen Krieg verteilt: auf der einen Seite die Regierung des Mikado, die für die Herrschaft des japanischen Kapitals über Ostasien kämpft und der noch kein starkes revolutionäres Proletariat gegenübersteht, auf der anderen Seite eine autokratische Regierung, die sich selbst überlebt hatte und sich bemühte, ihre Niederlage im Innern durch auswärtige Siege wettzumachen.

In den alten kapitalistischen Ländern gibt es keine „nationalen“ Bedürfnisse, d.h. Bedürfnisse der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, als deren Vertreterin sich die herrschende Bourgeoisie betrachten könnte. Die Regierungen Englands, Frankreichs, Deutschlands oder Österreichs sind schon nicht mehr fähig, nationale Kriege zu führen. Die lebendigen Interessen der Volksmassen, die Interessen der unterdrückten Nationalitäten oder die barbarische innere Politik eines Nachbarlandes vermögen es nicht, eine einzige bürgerliche Regierung in einen Krieg zu treiben, der einen befreienden und deshalb nationalen Charakter haben könnte. Andererseits können die Interessen kapitalistischer Raubsucht, die so häufig einmal diese, einmal jene Regierung veranlassen, vor den Augen der ganzen Welt mit den Sporen zu klirren und dem Säbel zu rasseln, nicht den geringsten Widerhall bei den Volksmassen hervorrufen. Aus diesem Grunde kann oder will die Bourgeoisie keine nationalen Kriege hervorrufen oder durchführen. Wozu unter den heutigen Bedingungen antinationale Kriege führen, zeigten zuletzt die Erfahrungen einmal im Süden Afrikas, sodann im Osten Asiens. Die schwere Niederlage des imperialistischen Konservatismus in England hat nicht ihre letzte Ursache in der Lektion des Burenkrieges; die andere, sehr viel wichtigere und für die englische Bourgeoisie gefährlichere Folge der imperialistischen Politik ist die politische Selbstbestimmung des englischen Proletariats, die, einmal begonnen, mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsschreiten wird. An die Folgen des russisch-japanischen Krieges für die Petersburger Regierung braucht man nicht zu erinnern. Aber auch ohne diese beiden Erfahrungen haben die europäischen Regierungen immer größere Angst davor, das Proletariat – seit es begonnen hat, auf eigenen Füßen zu stehen – vor das Dilemma: Krieg oder Revolution zu stellen. Gerade die Furcht vor dem Aufstand des Proletariats veranlaßt die bürgerlichen Parteien, ungeheure Summen für militärische Ausgaben zu bewilligen und zur gleichen Zeit feierliche Friedensmanifeste zu verkünden, von internationalen Schiedsgerichten und selbst von der Organisation der Vereinigten Staaten von Europa zu träumen. – Eine klägliche Deklamation, die natürlich weder den Antagonismus zwischen den Staaten noch bewaffnete Konflikte aus der Welt schaffen kann.

Der bewaffnete Friede, zu dem es in Europa nach dem französisch-preußischen Krieg kam, beruhte auf einem europäischen Gleichgewichtssystem, das nicht nur die Unverletzlichkeit der Türkei, die Teilung Polens, die Erhaltung Österreichs, dieses ethnographischen Harlekinkostüms, voraussetzte, sondern auch die Existenz des russischen Despotismus in der Rolle des bis an die Zähne bewaffneten Gendarms der europäischen Reaktion. Der russisch-japanische Krieg versetzte dem künstlich aufrechterhaltenen System, in dem der Autokratie eine erstrangige Stellung zukam, einen schweren Schlag. Rußland fiel für eine gewisse Zeit aus dem sogenannten Konzert der Mächte aus. Das Gleichgewicht war zerstört. Auf der anderen Seite entfachten die japanischen Erfolge die Eroberungsinstinkte der kapitalistischen Bourgeoisie, besonders der Börse, die für die gegenwärtige Politik von außerordentlich großer Bedeutung ist. Die Möglichkeit eines Krieges auf europäischem Boden wuchs sehr erheblich. Konflikte reifen überall heran, und wenn sie bis jetzt mit den Mitteln der Diplomatie beigelegt worden sind, so ist dies doch keine Garantie für den morgigen Tag. Ein europäischer Krieg aber bedeutet unweigerlich die europäische Revolution. [14]

Schon während des russisch-japanischen Krieges erklärte die Sozialistische Partei Frankreichs, daß sie im Falle einer Intervention der französischen Regierung zugunsten der Autokratie das Proletariat aufrufen werde, die entschiedensten Maßnahmen bis hin zum Aufstand zu ergreifen. Im März 1906, als sich der französisch-deutsche Konflikt anläßlich Marokkos zuspitzte, beschloß das Internationale Sozialistische Büro, im Falle der Kriegsgefahr „die geeignetsten Aktionsmaßnahmen für alle internationalen sozialistischen Parteien und die gesamte organisierte Arbeiterklasse für die Verhütung und Einstellung des Krieges festzulegen.“ Sicher, das war nur eine Resolution. Um ihre tatsächliche Bedeutung zu prüfen, wäre ein Krieg nötig. Die Bourgeoisie hat allen Grund, ein solches Experiment zu vermeiden. Aber zu ihrem Unglück ist die Logik der internationalen Beziehungen stärker als die Logik der Diplomaten.

Der Staatsbankrott Rußlands – mag er hervorgerufen werden durch das Herumwirtschaften der verknöcherten Bürokratie oder von einer revolutionären Regierung erklärt werden, die die Sünden des alten Regimes nicht verantworten will – der Staatsbankrott Rußlands wird in Frankreich eine furchtbare Erschütterung hervorrufen. Die Radikalen, die jetzt die politischen Geschicke Frankreichs in Händen halten, haben mit der Macht alle Schutzfunktionen übernommen, darunter auch die Sorge um die Interessen des Kapitals. Es gibt deshalb ernsthafte Gründe für die Annahme, daß sich der Finanzkrach (eine Folge des russischen Staatsbankrotts) in Frankreich unmittelbar in eine politische Krise verwandelt, die allein durch den Übergang der Macht in die Hände des Proletariats beendet werden kann. Auf diese oder jene Weise – entweder durch eine Revolution in Polen infolge eines europäischen Krieges oder als Ergebnis des Staatsbankrotts Rußland – wird die Revolution auf die Territorien des alten kapitalistischen Europa übergreifen.

Aber auch ohne den äußeren Druck solcher Ereignisse, wie Krieg oder Bankrott, kann die Revolution in nächster Zukunft in einem der europäischen Länder als Konsequenz der äußersten Verschärfung des Klassenkampfs entstehen. Wir wollen hier keine Vermutungen darüber anstellen, welches europäische Land als erstes den Weg der Revolution beschreitet; aber es kann nicht bezweifelt werden, daß die Klassengegensätze in den letzten Jahren in allen europäischen Ländern einen hohen Grad der Spannung erreicht haben.

Das kolossale Wachstum der deutschen Sozialdemokratie im Rahmen einer halbabsolutistischen Verfassung wird das Proletariat mit eiserner Notwendigkeit zu einem offenen Zusammenstoß mit der feudal-bourgeoisen Monarchie führen. Die Frage des Widerstandes gegen einen Staatsstreich auf dem Wege des Generalstreiks ist seit dem letzten Jahr zu einer der zentralen Fragen im politischen Leben des deutschen Proletariats geworden. In Frankreich macht der Übergang der Macht auf die Radikalen dem Proletariat ganz entschieden die Hände frei, die lange Zeit durch die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien im Kampf gegen den Nationalismus gebunden waren; das sozialistische Proletariat, das die unvergänglichen Traditionen vierer Revolutionen in sich aufgenommen hat, und die konservative Bourgeoisie, die sich hinter der Maske einer radikalen Partei versteckt, stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In England, wo ein ganzes Jahrhundert lang zwei bürgerliche Parteien immer abwechselnd auf der Schaukel des Parlamentarismus gesessen haben, begann in jüngster Zeit aus einer ganzen Reihe von Gründen der Prozeß der politischen Abspaltung des Proletariats. Während dieser Prozeß in Deutschland vier Jahrzehnte brauchte, kann die britische Arbeiterklasse, die über starke Gewerkschaften und reiche Erfahrungen im ökonomischen Kampf verfügt, in einigen Sprüngen die Armee des kontinentalen Sozialismus einholen.

Der Einfluß der russischen Revolution auf das europäische Proletariat ist außerordentlich groß. Sie wird nicht nur den Petersburger Absolutismus, die Hauptkraft der europäischen Reaktion, zerstören, sondern außerdem im Bewußtsein und der inneren Verfassung des europäischen Proletariats die notwendigen Voraussetzungen für die Revolution schaffen.

Die Aufgabe der sozialistischen Partei war und ist es, das Bewußtsein der Arbeiterklasse in dem Maße zu revolutionieren, wie die Entwicklung des Kapitalismus die sozialen Verhältnisse revolutionierte. Aber die Arbeit der Agitation und Organisation in den Reihen des Proletariats ist durch eine innere Unbeweglichkeit gekennzeichnet. Die europäischen sozialistischen Parteien, insbesondere die größte unter ihnen, die deutsche, haben einen eigenen Konservatismus entwickelt, der um so stärker ist, je größere Massen der Sozialismus ergreift, je höher der Organisationsgrad und die Disziplin dieser Massen sind. Infolgedessen kann die Sozialdemokratie als Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, in einem bestimmten Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und der bürgerlichen Reaktion werden. [15] Mit anderen Worten: der propagandistisch-sozialistische Konservatismus einer proletarischen Partei kann in einem bestimmten Augenblick den direkten Kampf des Proletariats um die Macht hemmen. Das ungeheure Gewicht der russischen Revolution zeigt sich darin, daß sie die Parteiroutine abtötet, den Konservatismus zerstört und die Frage der offenen Kraftprobe zwischen Proletariat und kapitalistischer Reaktion auf die Tagesordnung setzt. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht in Österreich, Sachsen und Preußen hat sich unter dem unmittelbaren Einfluß des Oktoberstreiks in Rußland zugespitzt. Die Revolution im Osten wird das Proletariat im Westen mit revolutionärem Idealismus anstecken und bei ihm den Wunsch wecken, mit seinen Feinden „russisch“ zu sprechen.

Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen. Die ungeheure staatlich-politische Macht, die ihr ein zeitweiliger Aufschwung der russischen bürgerlichen Revolution gibt, wird sie in die Waagschale des Klassenkampfes der gesamten kapitalistischen Welt werfen. Mit der Staatsmacht in Händen, mit der Konterrevolution im Rücken und der europäischen Reaktion vor sich, wird sie ihren Mitbrüdern in der ganzen Welt den alten Kampfruf zurufen, diesmal zum letzten Gefecht: Proletarier aller Länder vereinigt euch!

Fußnoten von Trotzki

A. Siehe mein Vorwort zu F. Lassalles Reden vor dem Geschworenengericht im Verlag Molot.

Anmerkungen

14. In der Ausgabe von 1919 ist dieser Satz gesperrt geschrieben.

15. In der Ausgabe von 1919 ist dieser Satz gesperrt geschrieben.

Der Kampf um die Macht [16]
(17. Oktober 1915)

Vor uns liegt ein Flugblatt zu Fragen des Programms und der Taktik mit dem Titel Die Aufgabe des russischen Proletariats. Brief an die Genossen in Rußland. Dieses Dokument ist unterzeichnet von P. Axelrod, Astrow, A. Martynow, L. Martow und S. Semkowski. Das Problem der Revolution wird in diesem Brief sehr allgemein gestellt, wobei Klarheit und Genauigkeit in dem Maße schwinden, in dem die Autoren von der Beschreibung der durch den Krieg geschaffenen Situation zu den politischen Perspektiven und taktischen Schlußfolgerungen übergehen; die Terminologie wird immer verschwommener, und die sozialen Definitionen werden doppeldeutig.

Im äußeren Zustand Rußlands scheinen auf den ersten Blick zwei Stimmungen vorzuherrschen: erstens die Sorge um die nationale Verteidigung (von Romanow bis Plechanow) und zweitens eine allgemeine Unzufriedenheit – von der oppositionell-bürokratischen Fronde bis zum Ausbruch von Meutereien auf der Straße. Diese beiden vorherrschenden Stimmungen erzeugen auch die Illusion künftiger Freiheit des Volkes, die aus dem Werk der nationalen Verteidigung hervorgehen wird. Diese beiden Stimmungen aber sind weitgehend dafür verantwortlich, daß die Frage nach der „Volksrevolution“ so unbestimmt gestellt wird, selbst wenn man sie der „nationalen Verteidigung“ gegenüberstellt.

Der Krieg selbst hat mit seinen Niederlagen weder das Problem der Revolution noch irgendwelche revolutionäre Kräfte zu dessen Lösung hervorgebracht. Die Geschichte beginnt für uns keineswegs mit der Übergabe Warschaus an den bayerischen Prinzen. Die revolutionären Widersprüche wie die sozialen Kräfte sind dieselben, mit denen wir 1905 zum ersten Male zu tun hatten – ergänzt durch die sehr bedeutsamen Veränderungen, die das darauffolgende Jahrzehnt an ihnen vorgenommen hat. Der Krieg hat lediglich mit mechanischer Anschaulichkeit die objektive Unhaltbarkeit des Regimes enthüllt. Zugleich hat er im gesellschaftlichen Bewußtsein Verwirrung gestiftet, die den Anschein erweckt, als sei „jedermann“ mit dem Verlangen angesteckt, Hindenburg Widerstand zu leisten, und gleichzeitig mit Haß gegen das Regime des 3. Juni erfüllt. [17] Aber soweit die Organisation eines „Volkskrieges“ schon bei ihren ersten Schritten auf die zaristische Polizei stößt und sich zeigt, daß das Rußland des 3. Juni eine Tatsache und der „Volkskrieg“ eine Fiktion ist, so stößt schon der erste Schritt „zu einer Volksrevolution“ sofort auf die sozialistische Polizei Plechanows, den man freilich zusammen mit seiner ganzen Gefolgschaft als eine Fiktion betrachten könnte, stünden nicht hinter ihm Kerenski, Miljukow, Gutschkow und überhaupt die nichtrevolutionäre und anti-revolutionäre Nationaldemokratie und der Nationalliberalismus.

Der Brief kann natürlich die Klassenspaltung der Nation nicht ignorieren, die sich durch eine Revolution vor den Folgen des Krieges und des gegenwärtigen Regimes retten soll. „Die Nationalisten und Oktobristen, die Fortschrittler und die Kadetten, die Industriellen und auch ein Teil (!) der radikalen Intelligenz schreien wie aus einem Munde von der Unfähigkeit der Bürokratie, das Land zu verteidigen, und fordern zugleich die Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte für die Sache der Verteidigung ...“ Der Brief zieht den ganz richtigen Schluß, daß diese Position, die den „Zusammenschluß mit den in Rußland gegenwärtig Herrschenden mit den Bürokraten, Adligen und Generalen für die Sache der Landesverteidigung“ voraussetzt, einen antirevolutionären Charakter trägt. Der Brief weist auch ganz richtig auf die anti-revolutionäre Position der „bürgerlichen Patrioten aller Schattierungen“ hin und, können wir hinzufügen, der Sozialpatrioten, die der Brief überhaupt nicht erwähnt.

Daraus müssen wir schließen, daß die Sozialdemokratie nicht nur die konsequenteste Partei der Revolution, sondern die einzige revolutionäre Partei im Lande ist, daß die Gruppierungen neben ihr nicht nur in der Anwendung revolutionärer Methoden weniger entschieden sind, sondern nichtrevolutionäre Parteien darstellen. Mit anderen Worten: daß die Sozialdemokratie mit ihrer revolutionären Aufgabenstellung in der politischen Arena trotz der „allgemeinen Unzufriedenheit“ gänzlich isoliert ist. Das ist die erste Schlußfolgerung, über die man sich ganz klar Rechenschaft ablegen muß. Parteien sind selbstverständlich noch keine Klassen. Zwischen der Position einer Partei und den Interessen der sozialen Schicht, auf die sie sich stützt, kann es Unstimmigkeiten geben, die sich später zu einem tiefen Widerspruch entwickeln können. Das Verhalten der Parteien kann sich unter dem Einfluß der Stimmung der Volksmassen verändern. Dies unterliegt keinem Zweifel. Um so nötiger ist es, daß wir aufhören, uns bei unseren Berechnungen auf weniger stabile und vertrauenswürdige Elemente zu verlassen, wie es die Losungen und taktischen Schritte der Parteien sind, und uns statt dessen auf zuverlässigere historische Faktoren beziehen: auf die soziale Struktur einer Nation, auf das Kräfteverhältnis der Klassen, auf die Entwicklungstendenzen.

Indessen lassen die Autoren des Briefes diese Probleme völlig außer acht. Was bedeutet eine „Volksrevolution“ im Rußland des Jahres 1915? Sie erklären uns nur, daß sie vom Proletariat und der Demokratie gemacht werden „muß“. Wir wissen, was das Proletariat ist; aber was ist „die Demokratie“? Eine politische Partei? Nach dem oben Gesagten offensichtlich nicht. Dann die Volksmassen? Welche? Ganz offensichtlich das Kleinbürgertum in Handel und Industrie, die Intelligenz und die Bauernschaft – nur von ihnen kann die Rede sein.

In der Artikelserie Die Krise des Krieges und die politischen Perspektiven haben wir eine allgemeine Beurteilung der möglichen revolutionären Bedeutung dieser sozialen Kräfte gegeben. Ausgehend von den Erfahrungen der letzten Revolution haben wir untersucht, welche Korrekturen das letzte Jahrzehnt am Verhältnis der Kräfte von 1905 aufgebracht hat: für die (bürgerliche) Demokratie oder gegen sie? Das ist die zentrale historische Frage für die Beurteilung der Perspektiven der Revolution und der Taktik des Proletariats: Ist die bürgerliche Demokratie seit 1905 in Rußland stärker geworden oder ist sie noch tiefer gefallen? Alle unsere Diskussionen gingen um die Frage nach dem Schicksal der bürgerlichen Demokratie, und wer auf diese Frage noch immer keine Antwort hat, tappt im Dunkeln. Wir haben eine Antwort auf diese Frage gegeben: Eine nationale bürgerliche Revolution in Rußland ist unmöglich, weil es dort keine wirklich revolutionäre bürgerliche Demokratie gibt. Die Zeit der nationalen Revolutionen ist – zumindest in Europa vorbei, ebenso wie die Zeit nationaler Kriege hinter uns liegt. Zwischen dem einen und dem anderen besteht ein tiefer innerer Zusammenhang. Wir leben in der Epoche des Imperialismus, der nicht nur durch ein System kolonialer Eroberungen, sondern auch durch ein bestimmtes inneres Regime gekennzeichnet ist. Er stellt nicht die bürgerliche Nation der alten Ordnung gegenüber, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation.

Die kleinbürgerliche Handwerker und Händler spielten schon in der Revolution von 1905 eine unbedeutende Rolle. Ganz ohne Frage ist die soziale Bedeutung dieser Schicht während der letzten zehn Jahre noch weiter gesunken: der Kapitalismus in Rußland rechnet sehr viel härter und radikaler mit den Zwischenklassen ab als in den Ländern mit einer alten ökonomischen Kultur.

Die Intelligenz ist zweifellos zahlenmäßig gewachsen. Es wuchs auch ihre wirtschaftliche Rolle. Gleichzeitig ist aber ihre selbst früher scheinbare „Unabhängigkeit“ vollständig geschwunden: die soziale Bedeutung der Intelligenz ist gänzlich bestimmt durch ihre Rolle bei der Organisierung der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen öffentlichen Meinung. Ihre materielle Bindung an den Kapitalismus hat sie durch und durch mit imperialistischen Tendenzen durchtränkt. Wie wir schon gehört haben, sagt der Brief: „Selbst ein Teil der radikalen Intelligenz ... fordert die Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte für die Sache der Verteidigung.“

Das ist völlig falsch. Nicht ein Teil, sondern die gesamte radikale Intelligenz. Man müßte sagen: nicht nur die gesamte radikale, sondern ein beachtlicher Teil, wenn nicht die Mehrheit der sozialistischen Intelligenz. Wir werden die Kader der „Demokratie“ schwerlich durch eine schönfärberische Darstellung des Charakters der Intelligenz vergrößern.

Die Industrie- und Handelsbourgeoisie ist noch weiter gesunken, die Intelligenz hat ihre revolutionären Positionen aufgegeben. Die städtische Demokratie kann nicht als revolutionärer Faktor angesprochen werden. Es bleibt nur die Bauernschaft. Aber soweit wir wissen, hat weder Axelrod noch Martow jemals übertriebene Hoffnungen in ihre revolutionäre Rolle gesetzt. Sind sie zu dem Schluß gelangt, daß die unaufhörliche Klassendifferenzierung unter den Bauern im Laufe der letzten zehn Jahre diese Rolle vergrößert hat? Eine solche Überlegung widerspräche allen theoretischen Überlegungen und allen historischen Erfahrungen.

Aber von welcher „Demokratie“ redet denn der Brief? Und in welchem Sinne von „Volksrevolution“?

Die Losung einer konstituierenden Versammlung setzt eine revolutionäre Situation voraus. Ist diese gegeben? Ja, aber sie ist am allerwenigsten von der endlichen Geburt einer bürgerlichen Demokratie in Rußland bestimmt, der man zuschreibt, sie sei jetzt bereit und in der Lage, mit dem Zarismus abzurechnen. Im Gegenteil: wenn dieser Krieg etwas sehr deutlich werden läßt, so das Fehlen einer revolutionären Demokratie im Lande.

Der Versuch des Rußlands vom 3. Juni, die inneren revolutionären Probleme auf dem Weg des Imperialismus zu lösen, hat offensichtlich zu einem Fiasko geführt. Das heißt nicht, daß die verantwortlichen oder halbverantwortlichen Parteien des 3. Juni sich nun für den Weg der Revolution entscheiden werden. Aber es bedeutet, daß das durch die militärische Katastrophe enthüllte revolutionäre Problem, das die Herrschenden noch weiter auf den Weg des Imperialismus treiben wird, jetzt die Bedeutung der einzigen revolutionären Klasse des Landes verdoppelt.

Der Block des 3. Juni ist erschüttert, heimgesucht von inneren Reibungen und Konflikten. Das heißt nicht, daß die Oktobristen und Kadetten sich mit dem revolutionären Problem der Macht auseinandersetzen und sich darauf vorbereiten, die Stellungen der Bürokratie und des vereinten Adels zu stürmen. Aber es heißt, daß die Widerstandskraft des Regimes gegenüber revolutionärem Druck unzweifelhaft für eine Weile geschwächt ist.

Monarchie und Bürokratie sind kompromittiert. Das bedeutet nicht, daß sie die Macht kampflos preisgeben. Mit der Auflösung der Duma und den letzten Ministerwechseln haben sie denen, auf die es ankommt, gezeigt, daß es bis dahin noch lange hin ist. Aber die Politik bürokratischer Instabilität, die sich nur noch verstärken wird, muß der Sozialdemokratie die revolutionäre Mobilisierung des Proletariats außerordentlich erleichtern.

Die unteren Volksschichten in den Städten und auf dem Lande werden immer erschöpfter, enttäuschter, unzufriedener und wütender. Das bedeutet nicht, daß neben dem Proletariat eine selbständige Kraft revolutionärer Demokratie operieren wird. Hierfür gibt es weder das gesellschaftliche Material noch die führenden Personen. Aber es bedeutet ohne Frage, daß die Atmosphäre tiefer Unzufriedenheit bei den unteren Volksschichten den revolutionären Druck der Arbeiterklasse erleichtern muß. Je weniger das Proletariat auf das Erscheinen der bürgerlichen Demokratie wartet, je weniger es sich an die Passivität und Borniertheit des Kleinbürgertums und der Bauernschaft anpaßt, je entschlossener und unversöhnlicher sein Kampf und je offensichtlicher seine Bereitschaft sein wird, bis zum „Ende“, d.h. bis zur Eroberung der Macht zu gehen, desto größer werden seine Chancen sein, im entscheidenden Moment auch die nichtproletarischen Massen mitzureißen. Mit Losungen allein, wie Konfiskation des Bodens usw., kann man hier natürlich nichts machen. Das gilt noch weit mehr für die Armee, mit der die Staatsgewalt steht und fällt. Die Masse der Soldaten wird nur dann auf die Seite der revolutionären Klasse zu bringen sein, wenn sie sich davon überzeugt, daß diese nicht nur murrt und demonstriert, sondern um die Macht kämpft und Chancen hat, sie zu ergreifen.

Es gibt ein objektiv revolutionäres Problem im Lande, das vom Krieg und den Niederlagen klar verdeutlicht wurde – das Problem der Staatsgewalt. Die Herrschenden befinden sich in einem Zustand zunehmender Desorganisation. Die Unzufriedenheit der städtischen und ländlichen Massen wächst. Aber der revolutionäre Faktor, der sich diese Situation zunutze machen kann, ist allein das Proletariat – heute in unvergleichlich größerem Maße als im Jahre 1905.

Der Brief nähert sich in einem Satz irgendwie diesem zentralen Punkt der Sache. Er sagt, daß die sozialdemokratischen Arbeiter Rußlands „sich an die Spitze dieses Volkskampfes für den Sturz der Monarchie des 3. Juni“ stellen müssen. Was mit „Volks“-Kampf gemeint sein kann, haben wir gerade gesagt. Wenn aber „an der Spitze“ nicht einfach in dem Sinne zu verstehen ist, daß die fortgeschrittenen Arbeiter großzügiger als alle anderen ihr Blut vergießen sollten, ohne sich deutlich Rechenschaft darüber abzulegen, was dabei eigentlich herauskommt, sondern in dem Sinne, daß die Arbeiter die politische Führung des gesamten Kampfes übernehmen müssen, der vor allem ein Kampf des Proletariats selbst sein wird, dann ist klar, daß der Sieg in diesem Kampf die Macht dem übergeben muß, der den Kampf geleitet hat, d.h. dem sozialdemokratischen Proletariat.

Es handelt sich also nicht einfach um eine „revolutionäre provisorische Regierung“ (eine leere Form, die von dem historischen Prozeß jeweils einen unbekannten Inhalt erhalten muß), sondern um eine „revolutionäre Arbeiterregierung“, die Eroberung der Macht durch das russische Proletariat.

Die allrussische konstituierende Versammlung, die Republik, der Achtstundentag, die Konfiskation des Bodens der Gutsbesitzer – das sind alles Losungen, die gemeinsam mit den Losungen der sofortigen Beendigung des Krieges, des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und der Vereinigten Staaten von Europa eine ungeheure Rolle in der Agitationsarbeit der Sozialdemokratie spielen. Die Revolution aber ist zunächst und vor allem eine Frage der Macht – nicht eine Frage der Staatsform (Verfassunggebende Versammlung, Republik, Vereinigte Staaten), sondern des sozialen Inhalts der Macht. Die Losung der Verfassunggebenden Versammlung oder der Konfiszierung des Bodens der Gutsbesitzer verlieren unter den gegenwärtigen Bedingungen alle unmittelbar revolutionäre Bedeutung ohne die direkte Bereitschaft des Proletariats, für die Eroberung der Macht zu kämpfen. Denn wenn nicht das Proletariat der Monarchie die Macht entreißt, wird dies niemand tun.

Die Geschwindigkeit des revolutionären Prozesses ist ein besonderes Problem. Sie hängt ab von einer Reihe militärischer, politischer, nationaler und internationaler Faktoren. Diese Faktoren können die Entwicklung verlangsamen oder beschleunigen, den revolutionären Sieg sicherstellen oder zu einer erneuten Niederlage führen. Aber unter all diesen Bedingungen muß das Proletariat klar seinen Weg vor Augen haben und ihn bewußt gehen. Vor allem muß es frei sein von Illusionen. Und die schlimmste Illusion des Proletariats ist in seiner ganzen Geschichte immer noch die Hoffnung auf andere gewesen.

Anmerkungen

16. Aus der Zeitung Nasche Slowo (Unser Wort), Paris, 17. Oktober 1915.

17. Am 3. (16.) Juni 1907 ließ Stolypin die zweite Duma auflösen.

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